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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Titel: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert L Stevenson
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auch der gute Name eines anderen Freundes in den Wirbel dieses Skandals mit einbezogen werden würde. Er mußte eine heikle Entscheidung treffen, und trotz seines starken Selbstvertrauens regte sich in ihm der Wunsch nach einem Rat. Er mochte ihn nicht direkt erbitten, aber vielleicht, überlegte er bei sich, könnte er ihn so nebenbei erhalten. Bald darauf saß er an der einen Seite seines Kamins, an der anderen saß Mr. Guest, sein Bureauvorsteher, und zwischen ihnen, in wohlerwogener Entfernung von dem Feuer, stand eine Flasche eines besonders alten Weines, der lange Zeit, dem Sonnenlicht entzogen, in den Kellern seines Hauses geruht hatte. Noch immer breitete der Nebel seine Schwingen über die erstickte Stadt, in der die Laternen gleich Karfunkeln glommen, und durch den Dunst und Qualm der herabsinkenden Wolken wälzte sich noch immer entlang der großen Verkehrsadern mit dem Tosen eines gewaltigen Windes die Prozession großstädtischen Lebens und Treibens. Das Zimmer jedoch erhellte freundlicher Feuerschein. Die Säure in der Flasche war längst verflogen, die köstliche Farbe hatte sich noch verdunkelt, gleichwie bemalte Fenster allmählich eine sattere Tönung annehmen, und die eingefangene Glut herbstlicher Tage auf den Abhängen der Weingärten wartete darauf, freigelassen zu werden und die Nebel Londons zu zerstreuen. Unmerklich taute der Anwalt auf. Es gab keinen Menschen, vor dem er weniger Geheimnisse bewahrte als vor Mr. Guest. Ja, er war sogar nicht immer sicher, daß er so viele vor ihm besaß, wie er meinte. Guest war oft in des Doktors geschäftlichen Angelegenheiten tätig gewesen, er kannte Poole, er hatte sicherlich auch von Hydes nahen Beziehungen zu dem Hause gehört und seine Schlüsse daraus gezogen; war es da nicht sogar gut, wenn er auch den Brief zu sehen bekam, der dieses Geheimnis aufklärte? Vor allem aber war Guest ein guter Beurteiler und Kenner von Handschriften, und die Maßnahme würde ihm als natürlich und gefällig erscheinen. Der Vorsteher war außerdem ein Mann der Ratschläge. Es war kaum anzunehmen, daß er ein so befremdliches Dokument lesen würde, ohne eine Bemerkung fallenzulassen, und auf Grund dieser Bemerkung konnte Mr. Utterson vielleicht seinen weiteren Weg wählen. »Das ist eine traurige Sache mit Sir Danvers«, bemerkte der Anwalt.
    »Ja, weiß Gott, Herr Doktor. Sie hat das Volksempfinden aufs tiefste erregt«, erwiderte Guest. »Der Mensch war natürlich verrückt.«
    »Ich würde gern Ihre Ansichten darüber hören«, entgegnete Utterson. »Ich habe hier ein Dokument in seiner Handschrift. Das bleibt natürlich unter uns, denn ich weiß kaum, was ich damit anfangen soll. Selbst im besten Falle ist es eine üble Sache. Doch sehen Sie selbst, es schlägt ganz in Ihr Fach: das Autogramm eines Mörders.«
    Guests Augen funkelten, und er setzte sich sofort zurecht und studierte es leidenschaftlich. »Nein, Herr Rechtsanwalt, nicht verrückt, aber es ist eine merkwürdige Handschrift.« »Und nach allem, was man hört, auch ein sehr merkwürdiger Verfasser«, fügte der Anwalt hinzu.
    Gerade in diesem Augenblick trat der Diener mit einem Briefe ein.
    »Ist das ein Schreiben von Dr. Jekyll, Herr Rechtsanwalt?« erkundigte sich der Vorsteher. »Ich glaubte die Schrift zu erkennen. Etwas Privates, Mr. Utterson?«
    »Lediglich eine Einladung zum Abendessen. Warum? Möchten Sie sie sehen?«
    »Nur einen Augenblick. Vielen Dank«, und der Vorsteher legte die beiden Schriftstücke nebeneinander und verglich eifrig ihren Inhalt. »Verbindlichen Dank, Herr Rechtsanwalt«, sagte er endlich und gab beide zurück, »Es ist ein außerordentlich interessantes Autogramm.«
    Es entstand eine Pause, während der Mr. Utterson einen innerlichen Kampf ausfocht. »Warum verglichen Sie die beiden Schriftstücke, Guest?« erkundigte er sich plötzlich. »Hm, Herr Rechtsanwalt«, entgegnete der Vorsteher. »Es besteht zwischen ihnen eine ganz erstaunliche Ähnlichkeit. In vielen Punkten sind die beiden Handschriften identisch; verschieden ist nur die Steilheit.«
    »Äußerst seltsam«, sagte Utterson.
    »Wie Sie zutreffend bemerkten, äußerst seltsam«, wiederholte Guest.
    »Ich möchte nicht, daß über diesen Brief gesprochen wird, wissen Sie«, sagte der Anwalt.
    »Bestimmt nicht, Herr Rechtsanwalt«, bestätigte der Vorsteher, »ich begreife.«
    Aber kaum blieb Mr. Utterson an diesem Abend allein, so verschloß er den Brief in seinem Safe, in dem er von da an ruhte. »Was hat das

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