Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
erwiderte er höflich, »was Sie sagen, ist nur allzu begründet, und meine Ungeduld hat meiner Höflichkeit den Rücken gekehrt. Ich bin auf Veranlassung Ihres Kollegen, Dr. Henry Jekyll, hierhergekommen, in einem Geschäft von einiger Bedeutung, und, wie ich verstand...« Er machte eine Pause und legte die Hand auf seine Brust, und trotz seiner gefaßten Art konnte ich sehen, daß er gegen einen neuen hysterischen Anfall kämpfte. - »Ich verstand, eine Schublade ...«
Aus Mitleid mit der Ungewißheit, unter der mein Besucher litt, vielleicht war auch meine eigene wachsende Neugier der Grund, sagte ich: »Dort steht sie, mein Herr«, und zeigte auf die Schublade, die noch immer mit dem Tuche bedeckt hinter einem Tisch auf dem Boden stand.
Er sprang hin, dann blieb er stehen und legte die Hand auf sein Herz. Ich konnte hören, wie seine Zähne bei den konvulsivischen Zuckungen seiner Kiefer knirschten. Sein Gesicht hatte einen so geisterhaften Ausdruck, daß ich Sorge für sein Leben und für seinen Verstand zu empfinden begann.
»Fassen Sie sich«, sagte ich. Mit einem schrecklichen Lachen wandte er sich nach mir um, dann riß er mit der Entschlossenheit der Verzweiflung das Tuch fort. Beim Anblick des Inhalts stieß er einen lauten Seufzer so unendlicher Erleichterung aus, daß ich wie versteinert dasaß, und im nächsten Augenblick fragte er mit einer Stimme, die er bereits wieder völlig in der Gewalt hatte: »Haben Sie ein Meßglas da?« Mit einiger Anstrengung erhob ich mich von meinem Platz und gab ihm das Verlangte.
Mit freundlichem Nicken dankte er mir, maß eine winzige Menge der roten Tinktur ab und schüttete eines der Pulver hinein. Die Mischung, die zuerst eine rötliche Tönung hatte, ging in dem Maße, wie das Salz schmolz, in eine leuchtende Farbe über, wallte hörbar auf und stieß kleine Dampfwölkchen aus. Plötzlich hörte das Aufwallen auf, und im gleichen Moment änderte sich die Färbung der Mischung in dunkles Purpur, das sich dann wieder allmählich in ein wäßriges Grün umwandelte. Mein Gast, der diese Metamorphosen mit scharfer Aufmerksamkeit verfolgt hatte, lächelte, stellte das Glas auf den Tisch, drehte sich dann um und blickte mich forschend an.
»Und jetzt«, sagte er, »heißt es beratschlagen, was geschehen soll. Wollen Sie klug sein? Wollen Sie sich raten lassen? Wollen Sie mir gestatten, dieses Glas zu ergreifen und, ohne weiter zu sprechen, Ihr Haus zu verlassen, oder hat die Neugier Sie schon allzusehr gepackt? Überlegen Sie Ihre Antwort wohl, denn es soll alles genau so geschehen, wie Sie's bestimmen. Wenn Sie es wollen, bleibt alles, wie es vorher war, Sie werden weder reicher noch klüger sein, wenn man nicht das Bewußtsein, einem Menschen in Todespein einen Dienst erwiesen zu haben, als eine Bereicherung der Seele betrachten will. Wenn Sie es aber vorziehen sollten, eine andere Wahl zu treffen, dann werden Ihnen in diesem Zimmer und im nämlichen Augenblick ein neues Wissensgebiet und neue Wege zu Ruhm und Macht eröffnet werden, und Ihr Auge wird von einem Wunder geblendet werden, groß genug, Satans Unglauben wanken zu machen.«
»Mein Herr«, sagte ich, eine Gleichgültigkeit markierend, die ich in Wirklichkeit keineswegs fühlte, »Sie sprechen in Rätseln, und Sie werden sich wahrscheinlich nicht wundern, daß ich Sie ohne rechten Glauben anhöre. Doch ich habe mich schon allzutief in diese unerklärlichen Dienste eingelassen, um haltzumachen, bevor ich den Abschluß gesehen habe.«
»Schön«, erwiderte mein Besucher, »Lanyon, erinnern Sie sich Ihres Eides? Was folgt, steht unter dem Siegel unseres Berufsgeheimnisses. Und jetzt, gib acht, du, der du so lange an den engen und materiellen Anschauungen festgehalten hast, du, der du die Macht der transzendentalen Medizin geleugnet hast, du, der du die dir Überlegenen verspottetest gib acht!«
Er führte das Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug. Ein Schrei ertönte, er wankte, taumelte, griff nach dem Tisch und hielt sich an ihm fest, mit hervorquellenden Augen und mit offenem Munde nach Luft ringend. Und während ich noch hinblickte, kam plötzlich eine Veränderung - er schien aufzuschwellen - sein Gesicht verfärbte sich schwarz, und die Züge schienen sich aufzulösen und zu verändern -und im nächsten Augenblick war ich aufgesprungen, taumelte gegen die Wand, meine Arme hoben sich, um mich vor jenem Furchtbaren zu schützen, und meinen Geist ergriff Entsetzen. »O Gott«, schrie ich, »o
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