Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
diese Vorkehrungen von ausschlaggebender Bedeutung sind, und daß durch Vernachlässigung auch nur einer derselben, phantastisch, wie sie erscheinen müssen, Du Dein Gewissen mit meinem Tode oder der Zerstörung meines Verstandes belastet hättest. Vertrauensvoll, wie ich bin, daß Du mit dieser flehentlichen Bitte keinen Mißbrauch treiben wirst, sinkt mir das Herz und zittern meine Hände bei dem bloßen Gedanken an eine solche Möglichkeit. Denke in dieser Stunde an mich, wie ich hier an einem seltsamen Orte weile, leidend unter so furchtbaren Seelenqualen, daß keine Phantasie sich schlimmere auszudenken vermöchte, und dennoch mit der klaren Einsicht, daß, falls Du mir nur pünktlich dienst, meine Nöte dahinschwinden werden, wie eine Geschichte, die erzählt ist. Diene mir, mein lieber Lanyon, und rette Deinen Freund H. J.
PS. Ich hatte bereits mein Siegel aufgedrückt, als ein neuer Schrecken meine Seele befiel. Ist es möglich; daß das Postamt mich im Stich läßt, und dieser Brief erst morgen früh in Deine Hände gelangt? In diesem Falle, lieber Lanyon, folge meinem Auftrag im Verlaufe des Tages, wann es Dir am besten paßt, und erwarte meinen Boten noch einmal um Mitternacht. Vielleicht ist es dann bereits zu spät. Sollte auch diese Nacht ohne einen Zwischenfall vorübergehen, dann wirst Du wissen, daß Du das Letzte von Henry Jekyll gesehen hast.
Nach der Lektüre dieses Briefes war ich überzeugt, daß mein Kollege geisteskrank sei. Aber solange das noch nicht über jeden Zweifel erwiesen war, fühlte ich mich verpflichtet, nach seinem Ersuchen zu handeln. Nur wenig vermochte ich von diesem Mischmasch zu begreifen. Nur wenig konnte ich in bezug auf seine Wichtigkeit beurteilen, aber einen so lautenden Appell konnte man nicht, ohne schwere Verantwortlichkeit auf sich zu laden, einfach beiseite legen. Ich erhob mich daher sofort vom Tisch, bestieg eine Droschke und fuhr direkt zu Jekylls Haus. Der Hausmeister erwartete schon meine Ankunft. Mit gleicher Post wie ich hatte er einen eingeschriebenen Brief mit Instruktionen erhalten und hatte sofort nach einem Schlosser und einem Zimmermann geschickt. Die Handwerker kamen, während wir noch miteinander sprachen, und wir begaben uns gemeinsam nach des alten Doktor Denmans chirurgischem Hörsaal, von dem aus man (wie du zweifellos weißt) am bequemsten Jekylls Privatkabinett betritt. Die Tür war außerordentlich fest, das Schloß ausgezeichnet; der Zimmermann versicherte, er würde große Mühe haben und erheblichen Schaden anrichten, wenn Gewalt angewendet werden müßte, und der Schlosser wollte fast verzweifeln. Aber er war ein geschickter Bursche, und nach zwei Stunden Arbeit stand die Tür offen. Der mit >E< bezeichnete Schrank war unverschlossen. Ich zog die Schublade heraus, füllte sie mit Stroh an, umwickelte sie mit einem Tischtuch und fuhr dann mit ihr nach Cavendish Square zurück. Hier machte ich mich daran, ihren Inhalt zu untersuchen. Die Pulver waren sehr ordentlich verpackt, doch nicht mit der Sorgfalt eines zünftigen Chemikers. Es war daher klar, daß sie Jekylls eigenes Erzeugnis waren. Und als ich eines der Päckchen öffnete, fand ich darin eine Substanz, die mir ein einfaches kristallinisches Salz vom weißer Färbung zu sein schien. Die Phiole, der ich dann meine Aufmerksamkeit zuwandte, mochte etwa zur Hälfte mit einer blutroten Flüssigkeit angefüllt sein, die äußerst beißend auf den Geruchssinn wirkte und mir Phosphor und irgendein flüchtiges Öl zu enthalten schien. Andere Ingredienzien vermochte ich nicht festzustellen. Das Buch war ein gewöhnliches Schreibheft und enthielt kaum etwas außer einer Reihe von Daten. Diese erstreckten sich über einen Zeitraum von vielen Jahren, aber ich bemerkte, daß die Eintragungen ganz abrupt vor etwa einem Jahr aufhörten. Hie und da war dem Datum eine kurze Bemerkung beigefügt, gewöhnlich nicht mehr als ein einzelnes Wort: >verdoppelt<. Das kam vielleicht sechsmal bei insgesamt mehreren hundert Eintragungen vor, und einmal, ziemlich am Anfang der Liste und gefolgt von mehreren Ausrufungszeichen, stand: >Absolut versagt!!!<. So sehr dieses alles meine Neugierde reizte, brachte es mir doch nur wenig Aufklärung. Da hatten wir ein Fläschchen mit irgendeiner Tinktur, ein Papier mit einem Salz und den Bericht über eine Reihe von Experimenten, die (wie nur allzu viele von Jekylls Forschungen) zu keinem praktischen Resultat geführt hatten. Wie vermochte wohl das Vorhandensein dieser
Weitere Kostenlose Bücher