Der siebte Schrein
war jetzt groß genug für eine Person. Magadone Sambisa gab Valentine mit zitternder Hand die Fackel.
»Ich muß Euch bitten, Majestät, nichts zu berühren, gar nichts zu verändern. Wir werden Euch das Privileg, als erster einzutreten, nicht verweigern, aber Ihr müßt daran denken, daß es ein wissenschaftliches Unternehmen ist. Wir müssen alles aufzeichnen, wie wir es finden, bevor etwas, und sei es noch so unbedeutend, verändert wird.«
»Ich verstehe«, sagte Valentine.
Er stieg vorsichtig über den Rest der Wand unter der Öffnung und zwängte sich hinein.
Der Boden des Schreins bestand aus einem glatten, glänzenden Stein, möglicherweise Rosenquarz. Eine feine Staubschicht bedeckte ihn. Seit zwanzigtausend Jahren hat niemand mehr diesen Boden betreten, dachte Valentine. Und eines Menschen Fuß überhaupt noch nie.
Er näherte sich dem großen Quader aus schwarzem Stein in der Mitte des Raums und ließ das Licht der Fackel darauf fallen. Ja, ein einziger Block rubingeäderten Opals, genau wie der Confalume-Thron. Darauf lag unter einer dünnen Staubschicht, die den Glanz kaum beeinträchtigte, eine Platte aus Gold, mit den verschnörkelten Schriftzeichen der Piurivar geschmückt und mit Cabochons aus Beryll und Karneol und Lapislazuli, wie es schien. Zwei lange, schmale Gegenstände, bei denen es sich um Dolche aus weißem Stein hätte handeln können, lagen nebeneinander genau in der Mitte der goldenen Platte.
Valentine verspürte einen Schauer tiefster Ehrfurcht. Er wußte, worum es sich bei den beiden Gegenständen handelte.
»Majestät? Majestät?« rief Magadone Sambisa. »Sagt uns, was Ihr seht! Sagt es uns, bitte!«
Aber Valentine antwortete nicht. Es war, als hätte Magadone Sambisa gar nichts gesagt. Er war tief in Gedanken, war acht Jahre in die Vergangenheit gereist, zurück zur entscheidenden Stunde der Rebellion.
In jener Stunde hatte er ein dolchähnliches Ding genau wie diese beiden vor ihm in der Hand gehalten und seine seltsame Kühle gespürt, eine Kühle, die auf einen heißen Kern im Inneren hindeutete, und hatte im Geiste eine vielstimmige, ferne Musik gehört, die davon ausging, eine turbulente Folge schwindelerregender Klänge.
Damals war es der Zahn eines Meeresdrachen gewesen, den er in seiner Hand gehalten hatte. Etwas Geheimnisvolles in diesem Zahn hatte seinen Geist in Verbindung mit dem Geist des mächtigen Wasserkönigs Maazmoorn gebracht, eines Drachen des fernen Inneren Meeres. Und mit geistiger Unterstützung Maazmoorns hatte der Pontifex Valentine die Welt überbrückt, den reulosen Rebellen Faraataa niedergestreckt und den traurigen Aufstand beendet.
Wessen Zähne mochten diese sein?
Er glaubte es zu wissen. Dies war der Schrein des Untergangs, der Ort der Schandtat. Nicht weit von hier waren vor langer Zeit zwei Wasserkönige vom Meer hergeschleppt worden, um auf den Plattformen aus blauem Stein geopfert zu werden. Das war kein Mythos. Es war tatsächlich geschehen. Valentine zweifelte nicht daran, denn der Meeresdrache Maazmoorn hatte es ihm durch die Kommunion des Geistes auf eine Weise gezeigt, die keine Fragen offen ließ. Er kannte sogar ihre Namen: Einer war der Wasserkönig Niznorn, der andere der Wasserkönig Domsitor. War das hier der Zahn von Niznorn und der dort der von Domsitor?
Zwanzigtausend Jahre.
»Majestät? Majestät?«
»Einen Moment«, sagte Valentine, der sprach, als sei er eine halbe Welt entfernt.
Er nahm den linken Zahn. Umklammerte ihn fest. Sog zischend Luft ein, als die feurige Kälte ihm die Handfläche verbrannte. Schloß die Augen und ließ die Magie in seinen Verstand strömen. Fühlte seine Seele hinausfliegen, hinaus, hinaus zu einem wartenden Meeresdrachen - möglicherweise wieder Maazmoorn, wer konnte das wissen, oder ein anderer der Giganten, die in jenen Gewässern dort draußen schwammen -, während er die ganze Zeit die läutenden Glocken, die jubilierende Musik aus dem Geist des Meeresdrachen hörte.
Und ihm wurde eine Vision des längst vergangenen Opfers der beiden Meeresdrachen gewährt, des Ereignisses, das als die Schandtat in die Geschichte eingegangen war.
Er wußte bereits, daß jener traditionelle Name auf einem Irrtum beruhte, hatte es von Maazmoorn bei jener Begegnung ihrer Geister erfahren. Es war zu keiner Schandtat gekommen. Es war ein freiwilliges Opfer gewesen; die Meeresdrachen hatten in aller Form die Macht Dessen Das Ist akzeptiert, welches die höchste aller Kräfte des Universums ist.
Die
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