Der siebte Schrein
Der Erzmagier ist zu den Eisgrauen Männern ins Labyrinth hinabgestiegen und mit dem Ring des Friedens zurückgekehrt. Er hat mit dem jungen König das Land des Todes besucht und den Spinnenmagier besiegt und ist zurückgekehrt. Das wissen wir durch das Wort des Königs selbst. Selbst hierher sind die Harfner gekommen, um dieses Lied zu singen, und ein Geschichtenerzähler kam, um davon zu berichten . . .«
Elfenbein nickte ernst. »Aber der Erzmagier verlor seine ganze Macht im Land des Todes. Vielleicht wurde da die ganze Magie geschwächt.«
»Die Zaubersprüche von Rose funktionieren wie eh und je«, sagte sie verstockt.
Elfenbein lächelte. Er sagte nichts, aber sie wußte, wie unbedeutend ihm das Wirken einer Dorfhexe vorkommen mußte, wo er doch große Taten und Mächte gesehen hatte. Sie seufzte und sagte aus tiefstem Herzen: »Ach, wenn ich doch nur keine Frau wäre!«
Er lächelte wieder. »Du bist eine wunderschöne Frau«, sagte er, aber schlicht, nicht auf die schmeichelhafte Weise, die er anfangs ihr gegenüber angewandt hatte, bevor sie ihm klarmachte, wie zuwider ihr das war. »Warum möchtest du ein Mann sein?«
»Damit ich nach Roke gehen könnte! Um zu sehen, zu lernen! Warum, warum können nur Männer dorthin?«
»So wurde es vor Jahrhunderten vom ersten Erzmagier bestimmt«, sagte Elfenbein. »Aber . . . das habe ich mich auch schon gefragt.«
»Wirklich?«
»Oft. Man sieht nur Knaben und Männer, tagein, tagaus, im Großhaus und auf dem gesamten Gelände der Schule. Man weiß, den Frauen aus der Stadt ist durch Bannspruch verboten, auch nur einen Fuß auf die Felder um den Kogel von Roke zu setzen. Einmal in vielen Jahren gestattet man vielleicht einer großen Dame, kurz einen der äußeren Höfe zu betreten . . . Warum das so ist? Sind alle Frauen unfähig zu verstehen? Oder fürchten die Meister sie, fürchten sie, korrumpiert zu werden - nein, aber sie fürchten, Frauen zuzulassen könnte das Gesetz ändern, an das sie sich klammern - die . . . Reinheit dieses Gesetzes . . .«
»Frauen können so gut wie Männer keusch leben«, sagte Drachenkind unverblümt. Sie wußte, daß sie unverblümt und grob war, wo er feinfühlig und hintergründig war, aber sie wußte nicht, wie sie sonst hätte sein sollen.
»Natürlich«, sagte er, und sein Lächeln wurde strahlend. »Aber Hexen sind nicht immer keusch, oder? . . . Vielleicht haben die Meister davor Angst. Vielleicht ist der Zölibat nicht so zwingend notwendig, wie das Gesetz von Roke besagt. Vielleicht ist es kein Mittel, die Macht rein zu bewahren, sondern nur, die Macht für sich selbst zu bewahren. Frauen auszuschließen, alle auszuschließen, die nicht bereit sind, sich zu Eunuchen zu machen, um diese spezielle Form von Macht zu erlangen . . . Wer weiß? Eine Magierin! Das würde alles verändern, sämtliche Regeln!«
Sie konnte sehen, daß sein Geist vor ihrem her tanzte, Einfälle aufgriff und damit spielte, sie verwandelte, so wie er Steine in Schmetterlinge verwandelte. Sie konnte nicht mit ihm tanzen, sie konnte nicht mit ihm spielen, aber sie sah ihn staunend an.
»Du könntest nach Roke gehen«, sagte er mit vor Aufregung, Schalkhaftigkeit, Aufmüpfigkeit leuchtenden Augen. Als er ihr fast flehentliches, ungläubiges Schweigen bemerkte, beharrte er: »Das könntest du. Du bist eine Frau, aber es gibt Mittel und Wege, dein Äußeres zu verändern. Du hast das Herz, die Willenskraft, den Mut eines Mannes. Du könntest das Großhaus betreten. Ich weiß es.«
»Und was würde ich dort tun?«
»Was alle Schüler tun. Allein in einer Zelle aus Stein leben und lernen, weise zu sein! Es ist vielleicht nicht das, was du dir erträumt hast, aber auch das könntest du lernen.«
»Könnte ich nicht. Sie würden es merken. Ich könnte nicht mal hinein. Du hast gesagt, da ist der Türhüter. Ich weiß nicht, welches Wort ich ihm sagen muß.«
»Das Kennwort, ja. Aber das könnte ich dir beibringen.«
»Das kannst du? Ist das denn erlaubt?«
»Mir ist einerlei, was ›erlaubt‹ ist«, sagte er mit einem Stirnrunzeln, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte. »Der Erzmagier selbst hat gesagt: Regeln sind dazu da, gebrochen zu werden. Ungerechtigkeit macht die Regeln, und Mut bricht sie. Ich habe den Mut, wenn du ihn auch hast!«
Sie sah ihn an. Sie brachte kein Wort heraus. Sie stand auf und ging nach einem Moment aus dem Stall, quer über den Hügel, auf dem Weg, der auf halber Höhe um ihn herum führte. Einer der Hunde, ihr
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