Der siebte Schrein
wenn er eine faire Chance erhielt, sie einzusetzen. Das Mädchen stellte fast keine Fragen. »Werde ich den ganzen Weg als Mann reisen?« war eine. »Ja«, sagte er, »aber nur verkleidet. Ich werde den Ähnlichkeitszauber erst über dich sprechen, wenn wir auf der Insel Roke eingetroffen sind.«
»Ich dachte, es wäre ein Zauber der Verwandlung«, sagte sie.
»Das wäre unklug«, entgegnete er und ahmte den salbungsvollen Tonfall des Meisters Verwandter ausgezeichnet nach. »Sollte es erforderlich sein, werde ich es natürlich tun. Aber du wirst feststellen, daß Magier höchst sparsam mit den großen Zaubersprüchen umgehen. Und das mit gutem Grund.«
»Das Gleichgewicht«, sagte sie und akzeptierte seine Worte im einfachsten Sinne, wie immer.
»Und vielleicht, weil diese Künste nicht mehr die Macht haben, die sie einst hatten«, sagte er. Er wußte nicht, warum er ihr Vertrauen in die Zauberei erschüttern wollte; vielleicht, weil jede Abschwächung ihrer Stärke, ihrer Ganzheit, ein Gewinn für ihn war. Es hatte damit angefangen, daß er versucht hatte, sie in sein Bett zu locken, ein Spiel, das er nur zu gern spielte. Das Spiel war zu einer Art von Wettbewerb geworden, mit dem er nicht gerechnet hatte, den er aber auch nicht beenden konnte. Er war jetzt fest entschlossen, sie nicht nur zu erobern, sondern zu besiegen. Er konnte nicht zulassen, daß sie ihn besiegte. Er mußte ihr und sich selbst beweisen, daß seine Träume ohne Bedeutung waren.
Ziemlich zu Anfang, als er es sattgehabt hatte, gegen ihre massive körperliche Gleichgültigkeit anzugehen, hatte er eine Hexerei zu Hilfe genommen, den Verführungsspruch eines Magiers, dessen er sich schämte, noch während er ihn wob, auch wenn er um seine Wirksamkeit wußte. Er belegte sie damit, als sie, typisch für sie, ein Kuhhalfter flickte. Das Ergebnis war nicht die dahinschmelzende Willigkeit der Mädchen gewesen, bei denen er ihn in Havnor und Thwil angewandt hatte. Drachenkind war nach und nach verschlossen und mürrisch geworden. Sie stellte keine ihrer endlosen Fragen nach Roke mehr und antwortete nicht, als er sie ansprach. Als er sich ihr sehr zaghaft näherte und ihre Hand nahm, wehrte sie ihn mit einem Schlag auf den Kopf ab, von dem ihm ganz schwindlig wurde. Er sah, wie sie ohne ein Wort aufstand und den Stall verließ, und der häßliche Hund, den sie so mochte, trottete hinter ihr her. Der Köter drehte sich zu ihm um und schien zu grinsen.
Sie ging den Weg zum alten Haus hinauf. Als seine Ohren nicht mehr klingelten, folgte er ihr und hoffte, daß der Zauber doch wirkte und dies nur ihre besonders derbe Art war, ihn endlich zu ihrem Bett zu führen. Als er sich dem Haus näherte, hörte er Geschirr zerbrechen. Der Vater, der Trunkenbold, kam verwirrt und ängstlich aus dem Haus, und Drachenkinds Stimme hallte hinter ihm her: »Aus dem Haus, du betrunkener, kriechender Verräter! Du niederträchtiger, schamloser Lüstling!«
»Sie hat mir meinen Becher weggenommen«, sagte der Hausherr von Iria zu dem Fremden und winselte wie ein Welpe, während die Hunde an seiner Seite bellten. »Sie hat ihn zerbrochen.«
Elfenbein verabschiedete sich. Er kehrte zwei Tage nicht zurück. Am dritten Tag ritt er probehalber an Alt-Iria vorbei, und sie kam zu ihm herunter. »Es tut mir leid, Elfenbein«, sagte sie und sah mit ihren rauchigen orange-braunen Augen zu ihm auf. »Ich weiß nicht, was vorgestern über mich gekommen ist. Ich war wütend. Aber nicht auf dich. Ich bitte um Verzeihung.«
Er verzieh ihr gnädig und probierte nie wieder einen Liebeszauber an ihr aus.
Bald, dachte er jetzt, würde er keinen mehr brauchen. Er würde wahre Macht über sie haben. Endlich hatte er gesehen, wie er die Macht bekommen konnte. Sie hatte sie ihm in die Hände gegeben. Ihre Stärke und Willenskraft waren enorm, aber glücklicherweise war sie dumm und er nicht.
Birke schickte einen Fuhrunternehmer mit sechs Fässern zehn Jahre alten Fanians nach Kembermünde, die der dortige Weinhändler bestellt hatte. Seinen Magier schickte er mit Freuden als Begleitschutz mit, denn der Wein war wertvoll, und auch wenn der junge König sich bemühte, so schnell wie möglich die Ordnung wiederherzustellen, trieben immer noch Banden von Wegelagerern auf den Straßen ihr Unwesen. So verließ Elfenbein Westteich auf einem großen Wagen, der von vier großen Pferden gezogen wurde, die langsam dahintrabten, und ließ die Beine baumeln. Unten am Eselshügel erhob sich eine
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