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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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gespürt, etwas jenseits dessen, was sie war. Und wenn Irian so wie jetzt aus der Welt hinaus schaute, dann schien sie jenen Ort oder jene Zeit oder jenes Wesen jenseits ihrer selbst zu betreten, das sich Roses Kenntnis vollkommen entzog. Dann fürchtete Rose sie und fürchtete um sie.
    »Du solltest aufpassen«, sagte die Hexe grimmig. »Alles ist gefährlich, das stimmt, am allermeisten aber, sich mit Magiern einzulassen.«
    Aus Liebe, Respekt und Vertrauen hätte Drachenkind niemals eine Warnung von Rose in den Wind geschlagen; aber sie war unfähig, sich Elfenbein als gefährlich vorzustellen. Sie verstand ihn nicht, aber an die Vorstellung, ihn zu fürchten, ihn persönlich, konnte sie sich nicht gewöhnen. Sie versuchte, respektvoll zu sein, aber das war unmöglich. Sie fand ihn klug und recht hübsch, dachte aber nicht oft an ihn, lediglich daran, was er ihr alles erzählen konnte. Er wußte, was sie wissen wollte, und erzählte es ihr Stück für Stück, nur war es dann eigentlich doch nicht das, was sie wissen wollte, aber trotzdem wollte sie mehr erfahren. Er war geduldig mit ihr, und sie war ihm dankbar für seine Geduld, weil sie wußte, daß er viel schneller war als sie. Manchmal lächelte er über ihre Unwissenheit, aber er wurde niemals höhnisch oder machte sich über sie lustig. Er beantwortete Fragen gern mit Gegenfragen, genau wie die Hexe; aber die Antworten auf Roses Fragen waren stets etwas, das sie immer gewußt hatte, während die Antworten auf seine Fragen unvorstellbar und erschreckend waren, unerwünscht, manchmal schmerzlich, auf jeden Fall aber angetan, ihre sämtlichen Überzeugungen ins Wanken zu bringen.
    Wenn sie sich Tag für Tag im alten Stall von Iria trafen, was ihnen zur Gewohnheit geworden war, stellte sie ihm Fragen, und er erzählte ihr mehr, wenn auch widerwillig und stets nur zum Teil; er schützte seine Meister, dachte sie, und versuchte, das strahlende Bild von Roke aufrechtzuerhalten, bis er eines Tages ihrer Beharrlichkeit nachgab und offen sprach.
    »Es gibt gute Männer dort«, sagte er. »Der Erzmagier war bestimmt groß und weise. Aber er ist fort. Und die Meister . . . Manche halten sich abseits, folgen geheimem Wissen, suchen immer mehr Formen, immer mehr Namen, nutzen ihr Wissen aber in keiner Weise. Andere verbergen ihren Ehrgeiz unter dem grauen Mantel der Weisheit. Roke ist nicht länger der Ort der Macht auf Erdsee. Die ist auf das Gericht in Havnor übergegangen. Roke lebt von seiner großen Vergangenheit und wird durch tausend Zaubersprüche vor der Gegenwart geschützt. Und was ist hinter diesen Mauern der Zaubersprüche? Wetteifernde Ambitionen, Angst vor allem Neuen, Angst vor jungen Männern, die die Macht der alten in Frage stellen. Und im Zentrum - nichts. Ein leerer Innenhof. Der Erzmagier wird nie zurückkehren.«
    »Woher weißt du das?« flüsterte sie.
    Er sah sie streng an. »Der Drache hat ihn fortgebracht.«
    »Du hast es gesehen? Das hast du gesehen?« Sie ballte die Fäuste, als sie sich diesen Flug vorstellte.
    Nach langer Zeit kehrte sie zum Sonnenlicht und dem Stall und ihren Gedanken und Rätseln zurück. »Aber auch wenn er fort ist«, sagte sie, »sind doch gewiß einige der Meister wahrhaft weise?«
    Als er aufschaute und antwortete, geschah es mit der Andeutung eines melancholischen Lächelns. »Weißt du, bei Licht betrachtet laufen alle Geheimnisse und die Weisheit der Meister auf nicht besonders viel hinaus. Tricks des Berufs - wunderbare Illusionen. Aber die Leute wollen das nicht glauben. Sie wollen die Geheimnisse, die Illusionen. Wer kann es ihnen verdenken? Im Leben der meisten gibt es so wenig, das schön oder wertvoll ist.«
    Als wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen, hob er ein Stück Stein von dem gebrochenen Pflaster auf und warf es in die Luft, und als er weitersprach, flatterte es mit zarten blauen Schwingen um ihre Köpfe, ein Schmetterling. Er streckte den Finger aus, und der Schmetterling landete darauf. Er schüttelte den Finger, worauf der Schmetterling zu Boden fiel, ein Stück Stein.
    »In meinem Leben gibt es nicht viel, das viel wert ist«, sagte sie und senkte den Blick auf das Pflaster. »Ich weiß nur, wie man die Farm führt, und versuche, aufrecht zu sein und die Wahrheit zu sagen. Aber wenn ich glaubte, daß alles nur Tricks und Lügen sind, selbst auf Roke, würde ich diese Männer dafür hassen, daß sie mich zum Narren halten, uns alle zum Narren halten. Es können keine Lügen sein. Nicht nur.

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