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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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bist, ohne Kunstfertigkeit, ohne Wissen, ohne Ausbildung!«
    »Du hättest mir etwas beibringen können! Du wolltest nur nie!«
    Rose tat alles, was sie gelehrt hatte oder hätte lehren können, mit einer Handbewegung ab.
    »Nun, dann muß ich eben von ihm lernen«, sagte Drachenkind.
    »Magier unterrichten keine Frauen. Du bist von Sinnen.«
    »Du und Besen, ihr tauscht Zaubersprüche aus.«
    »Besen ist ein Dorfzauberer. Dieser Mann ist ein weiser Mann. Er hat die Hohen Künste im Großhaus auf Roke gelernt!«
    »Er hat mir gesagt, wie es ist«, sagte Drachenkind. »Man geht durch die Stadt Thwil. Eine Tür befindet sich an der Straße, aber die Tür ist verschlossen. Sie sieht aus wie eine gewöhnliche Tür.« Die Hexe lauschte und war außerstande, der Verlockung offenbarter Geheimnisse und der ansteckenden Wirkung leidenschaftlichen Verlangens zu widerstehen. »Ein Mann kommt, wenn man klopft, der wie ein ganz normaler Mann aussieht. Und man muß eine Prüfung bei ihm bestehen. Man muß ein bestimmtes Wort sagen, ein Kennwort, ehe er einen einläßt. Wenn man es nicht weiß, kommt man nie hinein. Aber wenn er einen hineinläßt, dann sieht man, daß die Tür von innen ganz anders ist - sie besteht aus Horn, in das ein Baum geschnitzt wurde, und der Rahmen ist aus einem Zahn gemacht, dem Zahn eines Drachen, der lange, lange vor Erreth-Akbe und vor Morred lebte, bevor es Menschen auf Erdsee gab. Am Anfang gab es nur Drachen. Sie haben den Zahn auf dem Berg Onn in Havnor gefunden, im Mittelpunkt der Welt. Und die Blätter des Baums sind so dünn geschnitzt, daß das Licht durch sie scheint, aber die Tür ist so stark, daß kein Zauberspruch sie je öffnen könnte, wenn der Türhüter sie geschlossen hat. Und dann führt einen der Türhüter einen Flur entlang, und noch einen Flur, bis man ratlos ist und sich verirrt hat, und plötzlich kommt man unter freiem Himmel heraus. Im Hof des Springbrunnens, im tiefsten Inneren des Großen Hauses. Und dort ist der Erzmagier, wenn er da ist . . .«
    »Fahr fort«, murmelte die Hexe.
    »Das ist alles, was er mir bis jetzt erzählt hat«, sagte Drachenkind, die zurückkehrte zu dem milden, wolkenverhangenen Frühlingstag und der unendlich vertrauten Dorfstraße, Roses Vorgarten, ihren eigenen sieben Milchschafen, die auf dem Berg Iria grasten, den bronzefarbenen Kronen der Eichen. »Er ist sehr vorsichtig, wenn er von den Meistern spricht.«
    Rose nickte.
    »Aber er hat mir von einigen der Schüler erzählt.«
    »Ich schätze, das kann nicht schaden.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Drachenkind. »Es ist wunderbar, etwas über das Großhaus zu hören, aber ich dachte, die Leute dort wären - ich weiß auch nicht. Natürlich sind sie fast alle noch Knaben, wenn sie dorthin gehen. Aber ich dachte mir, sie wären . . .« Sie sah mit besorgter Miene zu den Schafen auf dem Hügel. »Manche von ihnen sind wirklich schlecht und dumm«, sagte sie mit leiser Stimme. »Sie besuchen die Schule, weil sie reich sind. Und sie studieren nur dort, um noch reicher zu werden. Oder um Macht zu erlangen.«
    »Aber natürlich«, sagte Rose, »deshalb sind sie doch dort!«
    »Aber Macht - von der du mir erzählst hast - ist nicht dasselbe, wie Leute tun lassen, was du willst, oder dich bezahlen lassen . . .«
    »Nicht?«
    »Nein!«
    »Wenn ein Wort heilen kann, kann ein Wort auch verletzen«, sagte die Hexe. »Wenn eine Hand töten kann, dann kann eine Hand auch gesund machen. Ein Wagen, der nur in eine Richtung fährt, ist ein armseliger Wagen.«
    »Aber auf Roke lernen sie, die Macht zum Guten einzusetzen, nicht zum Schaden oder um sich zu bereichern.«
    »Alles geschieht irgendwie, um sich zu bereichern, würde ich sagen. Die Menschen müssen leben. Aber was weiß ich schon? Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, daß ich das mache, wovon ich etwas verstehe. Aber ich spiele nicht mit den großen Künsten herum, den gefährlichen Mächten, zum Beispiel, die Toten zu rufen«, und Rose machte das Handzeichen, um die Gefahr abzuwenden, die sie angesprochen hatte.
    »Alles ist gefährlich«, sagte Drachenkind und sah nun durch die Schafe, die Hügel und die Bäume hindurch in ruhige Tiefen, in eine farblose, weite Leere, die dem klaren Himmel vor Sonnenaufgang glich.
    Rose beobachtete sie. Sie wußte, sie hatte keine Ahnung, wer Irian war oder was sie sein könnte. Eine große, kräftige, linkische, unwissende, unschuldige, zornige junge Frau, ja. Aber seit sie ein Kind war, hatte Rose etwas in ihr

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