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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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ungeschlachte Gestalt am Wegesrand und bat den Fuhrunternehmer, sie mitzunehmen. »Ich kenne dich nicht«, sagte der Fuhrunternehmer und hob die Peitsche, um den Fremden zu verscheuchen, aber Elfenbein kam um den Wagen herum und sagte: »Lassen Sie den Burschen mitfahren, guter Mann. Er wird keinen Schaden anrichten, solange ich bei Ihnen bin.«
    »Dann behalten Sie ihn im Auge, Meister«, sagte der Fuhrunternehmer.
    »Das werde ich«, sagte Elfenbein und zwinkerte Drachenkind zu. Sie war durch Schmutz und die alte Kutte eines Feldarbeiters und enge Hosen und einen abscheulichen Filzhut bestens verkleidet und erwiderte sein Zwinkern nicht. Sie spielte ihre Rolle sogar, während sie nebeneinandersaßen und die Beine über die Heckklappe baumeln ließen und sechs große Fässer Wein hinter ihnen rumpelten und der schläfrige Fuhrunternehmer dahinter saß und die verschlafenen sommerlichen Hügel und Felder langsam, langsam vorbeizogen. Elfenbein versuchte, sie zu necken, aber sie schüttelte nur den Kopf. Vielleicht hatte sie jetzt, wo sie ihn in die Tat umsetzten, Angst vor dem verwegenen Plan bekommen. Schwer zu sagen. Sie war ernst und schweigsam. Diese Frau könnte mich sehr langweilen, dachte Elfenbein, wenn ich sie erst einmal unter mir gehabt habe. Dieser Gedanke erregte ihn fast unerträglich, aber als er sie ansah, vergingen ihm solche Gedanken im Angesicht ihrer übermächtigen Präsenz.
    Es gab keine Gasthäuser an diesem Abschnitt der Straße, die durch das Gebiet führte, das einst zur Domäne Iria gehört hatte. Als die Sonne sich den westlichen Ebenen näherte, machten sie Rast an einem Farmhaus, wo es einen Stall für die Pferde, einen Schuppen für den Wagen und Stroh im Heuschober für die Fuhrleute gab. Der Schober war dunkel und stickig, das Stroh klamm. Elfenbein verspürte nicht das geringste Begehren, obwohl Drachenkind keinen Meter von ihm entfernt lag. Sie hatte den ganzen Tag lang so überzeugend einen Mann gespielt, daß sie sogar ihn halb überzeugt hatte. Vielleicht würde sie die alten Männer doch zum Narren halten! dachte er, grinste bei dem Gedanken und schlief ein.
    Den ganzen nächsten Tag ging es auf holprigen Wegen weiter, durch ein oder zwei Sommergewitter, bis sie in der Abenddämmerung in Kembermünde eintrafen, einer befestigten, wohlhabenden Hafenstadt. Sie ließen den Fuhrunternehmer die Geschäfte seines Herrn und Meisters erledigen und suchten ein Gasthaus bei den Docks. Drachenkind betrachtete die Sehenswürdigkeiten der Stadt schweigend, was auf Ehrfurcht oder Mißfallen oder bloße Gleichgültigkeit hindeuten konnte. »Dies ist eine hübsche kleine Stadt«, sagte Elfenbein, »aber die einzig wahre Stadt der Welt ist Havnor.« Es hatte keinen Zweck, sie beeindrucken zu wollen; sie sagte nur: »Es fahren nicht viele Handelsschiffe nach Roke, oder? Wird es lange dauern, bis wir eines finden, das uns mitnimmt - was meinst du?«
    »Nicht, wenn ich einen Stab trage«, sagte er.
    Sie sah sich nicht mehr um, sondern schlenderte eine Weile nachdenklich dahin. Sie war wunderschön, wenn sie sich bewegte, kühn und anmutig und den Kopf hoch erhoben.
    »Du meinst, sie werden einem Magier gefällig sein? Aber du bist kein Magier.«
    »Das ist eine reine Formsache. Wir ranghöheren Zauberer dürfen einen Stab tragen, wenn wir im Auftrag von Roke unterwegs sind. Und das bin ich.«
    »Weil du mich hinbringst?«
    »Weil ich ihnen einen Studenten bringe, ja. Einen hochbegabten Studenten!«
    Sie stellte keine Fragen mehr. Sie widersprach niemals; das war einer ihrer Vorzüge.
    An diesem Abend fragte sie beim Essen in dem Gasthaus am Hafen ungewöhnlich schüchtern: »Bin ich hoch begabt?«
    »Meiner Meinung nach, ja«, sagte er.
    Sie überlegte - eine Unterhaltung mit ihr war häufig eine langwierige Angelegenheit - und sagte: »Rose hat immer gesagt, daß ich Macht hätte, aber sie wußte nicht, was für eine. Und ich . . . ich weiß auch, daß es so ist, aber ich weiß nicht, was sie ist.«
    »Du gehst nach Roke, um das herauszufinden«, sagte er, hob das Glas und sah ihr in die Augen. Einen Moment später hob sie ihres und lächelte ihn an, ein so strahlendes und zärtliches Lächeln, daß er spontan hinzufügte: »Und möge, was du findest, alles sein, was du suchst!«
    »Wenn, dann ist das dein Verdienst«, sagte sie. In diesem Augenblick liebte er sie ihres aufrichtigen Herzens wegen und hätte jeden Gedanken an sie aufgegeben, es sei denn als seine Gefährtin in einem kühnen

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