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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Brüste im Schatten unter dem Kragen ihres Hemdes.
    Sie schaute auf und sah den Eisgrauen Mann aus dem dunklen Korridor unter den Eichen treten und über die Lichtung auf sie zukommen.
    Er blieb vor ihr stehen. Sie spürte, wie sie errötete, wie ihr Gesicht und ihr Hals brannten, ihr schwindlig wurde, ihr die Ohren klingelten. Sie suchte Worte, etwas, das sie sagen konnte, um seine Aufmerksamkeit von ihr abzulenken, fand aber überhaupt nichts. Er setzte sich neben sie. Sie senkte den Blick, als würde sie das Gerippe eines Blatts vom vergangenen Jahr betrachten.
    Was will ich? fragte sie sich, und die Antwort kam nicht in Worten, sondern durchströmte ihren ganzen Körper und ihre Seele: das Feuer, ein größeres Feuer als das, der Flug, der brennende Flug -
    Sie kehrte wieder in sich selbst zurück, in die Stille unter den Bäumen. Der Eisgraue Mann saß neben ihr und hatte den Kopf gesenkt, und sie dachte, wie schmal und leicht er aussähe, wie still und traurig. Sie mußte ihn nicht fürchten. Er wollte ihr nicht schaden.
    Er sah zu ihr hinüber.
    »Irian«, sagte er, »hörst du die Blätter?«
    Die Brise wehte wieder sanft; sie konnte den Hauch eines Flüsterns zwischen den Eichen hören. »Ein bißchen«, sagte sie.
    »Verstehst du die Worte?«
    »Nein.«
    Sie stellte keine Fragen, und er sagte nichts mehr. Schließlich stand er auf, und sie folgte ihm auf dem Weg, der sie stets, früher oder später, aus dem Wald und zu der Lichtung am Thwilbach und dem Otternhaus führte. Als sie dort eintrafen, war es später Nachmittag. Er ging zum Bach und trank an der Stelle, wo er aus dem Wald herauskam, oberhalb der ganzen Spuren. Sie folgte seinem Beispiel. Als sie im kühlen, hohen Gras am Ufer saßen, fing er an, zu erzählen.
    »Mein Volk, die Kargs, betet Götter an. Zwillingsgötter, Brüder. Und der König dort ist ebenfalls ein Gott. Aber davor und danach existieren die Bäche. Höhlen, Steine, Hügel. Bäume. Die Erde. Die Dunkelheit der Erde.«
    »Die Alten Mächte«, sagte Irian.
    Er nickte. »Dort kennen Frauen die Alten Mächte. Und hier auch, Hexen. Und das Wissen ist böse - nicht wahr?«
    Wenn er dieses fragende »nicht wahr« an eine scheinbare Feststellung anhängte, überraschte er sie damit immer wieder. Sie sagte nichts.
    »Dunkelheit ist schlecht«, sagte der Formgeber. »Nicht wahr?«
    Irian holte tief Luft und sah ihm fest in die Augen, während sie dasaßen. »›Nur in der Dunkelheit ist Licht‹«, sagte sie.
    »Ah«, sagte er. Er wandte sich ab, so daß sie seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.
    »Ich sollte gehen«, sagte sie. »Ich kann im Hain spazierengehen, aber nicht dort leben. Er ist nicht mein . . . mein Ort. Und der Meister Sänger hat gesagt, daß ich durch mein Hiersein Schaden anrichte.«
    »Wir alle richten durch unser Sein Schaden an«, sagte der Formgeber.
    Er tat, was er häufig tat, schaffte eine kleine Form aus allem, was eben zur Hand war: Auf den Sand des Ufers vor sich legte er den Stiel eines Blatts, einen Grashalm und mehrere Kieselsteine. Er betrachtete sie und ordnete sie neu. »Jetzt muß ich von Schaden sprechen«, sagte er.
    Nach einer langen Pause fuhr er fort: »Du weißt, daß ein Drache unseren Lord Sperber zusammen mit dem jungen König von der Küste des Todes zurückgebracht hat. Danach trug der Drache Sperber in seine Heimat, denn seine Macht war dahin, er war kein Magier mehr. Aus diesem Grund versammelten sich die Meister von Roke zu gegebener Zeit, um einen neuen Erzmagier zu wählen, und zwar hier, im Hain, wie immer. Oder nicht wie immer.
    Bevor der Drache kam, war auch der Gebieter vom Tod zurückgekehrt, wohin er gehen, wohin seine Kunst ihn führen kann. Er hatte unseren Herrn und den jungen König dort gesehen, in jenem Land auf der anderen Seite der Steinmauer. Er sagte, sie würden nicht zurückkehren. Er sagte, Lord Sperber habe ihm gesagt, daß er zu uns zurückkehren solle, ins Leben, und die Kunde verbreiten. Und so trauerten wir um unseren Herrn.
    Doch dann kam der Drache Kalessin und brachte ihn lebend.
    Der Gebieter war bei uns, als wir auf dem Kogel von Roke standen und den Erzmagier vor König Lebannen knien sahen. Und als der Drache unseren Freund fortbrachte, fiel der Gebieter um.
    Er lag da wie tot, kalt, sein Herz schlug nicht, und doch atmete er. Der Kräutermeister setzte seine ganze Kunstfertigkeit ein, konnte ihn aber nicht erwecken. ›Er ist tot‹, sagte er. ›Der Atem will nicht aus ihm weichen, aber er ist tot.‹

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