Der siebte Schrein
eine weite Strecke gegangen waren und dunkle Nadelbäume, die sie nicht kannte, hoch um sie herum aufragten, hörte sie einen Ruf - den Ton eines Horns oder einen Schrei? -, weit entfernt, gerade an der Hörgrenze. Sie blieb stehen und horchte nach Westen. Der Magier ging weiter und drehte sich erst um, als er merkte, daß sie stehengeblieben war.
»Ich hörte . . .«, sagte sie, konnte aber nicht sagen, was sie gehört hatte.
Er lauschte. Schließlich gingen sie weiter in einer Stille, die nach dem fernen Ruf noch umfassender und alles beherrschend wirkte.
Sie ging nie ohne ihn in den Hain, und es vergingen viele Tage, bis er sie darin allein ließ. Aber eines Tages, als sie an eine Lichtung zwischen einer Eichengruppe kamen, sagte er: »Ich werde hierher zurückkommen, ja«, ging mit seinen raschen, lautlosen Schritten weiter und verschwand fast augenblicklich in den gefleckten, sich verändernden Tiefen des Waldes.
Sie hatte nicht den Wunsch, den Wald allein zu erforschen. Der friedliche Ort gebot Stille, Beobachten, Zuhören; und sie wußte, wie trügerisch die Wege waren, und daß der Hain, wie der Formgeber sich ausdrückte, »innen größer als außen« war. Sie setzte sich auf einer sonnenfleckigen Stelle inmitten der Schatten nieder und verfolgte das Schattenspiel des Laubs auf dem Boden. Eine tiefe Schicht Eicheln lag am Boden verstreut; sie hatte noch nie Wildschweine in dem Wald gesehen, aber hier sah sie ihre Fährten. Einen Moment lang nahm sie den Geruch eines Fuchses wahr. Ihre Gedanken bewegten sich so leicht und angenehm wie die Brise in dem warmen Licht.
Häufig schien ihr Kopf ganz frei von Gedanken und ganz von dem Wald selbst erfüllt zu sein, aber an diesem Tag überfielen sie lebhafte und deutliche Erinnerungen. Sie dachte an Elfenbein, den sie wahrscheinlich nie wiedersehen würde, und fragte sich, ob er ein Schiff gefunden hatte, das ihn zurück nach Havnor brachte. Er hatte ihr gesagt, daß er nie wieder nach Westteich zurückkehren würde; der einzige Ort für ihn sei der Große Hafen, die Stadt des Königs. Seinetwegen könnte die ganze Insel weg tief im Meer versinken. Aber sie dachte voller Liebe an die Straßen und Felder von Weg. Sie dachte an das Dorf von Alt-Iria, die marschige Quelle unter dem Iriaberg, das alte Haus darauf. Sie dachte an Daisy, die in der Küche ihre Balladen sang, an Winterabende, an ihre Holzpantoffeln, mit denen sie den Takt der Sekunden klopfte; und an den alten Coney mit seinem scharfen Messer in den Weingärten, wo er ihr zeigte, wie man die Reben »bis auf das Leben in ihnen« zurückschnitt; und an Rose, ihre Etaudis, die Zaubersprüche flüsterte, um die Schmerzen im gebrochenen Arm eines Kindes zu lindern. Ich habe weise Menschen kennengelernt, dachte sie. Ihr Geist schrak vor Erinnerungen an ihren Vater zurück, aber die Bewegungen von Blättern und Schatten beschworen sie dennoch herauf. Sie sah ihn betrunken und brüllend. Sie spürte seine tastenden, zitternden Hände auf sich. Sie sah ihn elend und beschämt weinen, und Kummer erfüllte ihren Körper und löste sich wieder auf wie ein Schmerz, der langsam abklingt. Er bedeutete ihr weniger als die Mutter, die sie nie gekannt hatte.
Sie streckte sich, spürte das Wohlgefühl ihres Körpers in der Wärme, und ihre Gedanken wanderten zu Elfenbein zurück. Sie hatte niemanden in ihrem Leben, den sie begehrt hätte. Als der junge Magier zum erstenmal so jung und arrogant vorbeigeritten war, hatte sie sich gewünscht, sie hätte ihn wollen können; aber sie konnte nicht, und daher hatte sie geglaubt, daß er durch eine Magie geschützt sei. Rose hatte ihr erklärt, wie die Zaubersprüche von Magiern wirkten, »damit das Verlangen dir nie in den Kopf eindringt, und in ihren auch nicht, weil das auf Kosten ihrer Macht gehen würde, sagen sie«. Aber Elfenbein, der arme Elfenbein, war nur allzu ungeschützt gewesen. Wenn jemand unter einem Keuschheitszauber stand, dann mußte sie das gewesen sein, denn so bezaubernd und hübsch er auch war, sie hatte nie etwas anderes für ihn empfinden können als Zuneigung, und ihre einzige Lust war gewesen, zu lernen, was er ihr beibringen konnte.
Sie dachte über sich selbst nach, während sie in der tiefen Stille des Hains saß. Kein Vogel sang; der Wind hatte sich gelegt; die Blätter hingen still. Bin ich behext? Bin ich ein steriles Ding, nicht vollständig, keine Frau? fragte sie sich und betrachtete ihre kräftigen bloßen Arme und die sanften Rundungen der
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