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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Wissen?«
    »Nein. Tu ich nicht. Rose wollte mir nichts beibringen. Sie sagte, sie würde es nicht wagen. Weil ich Macht habe, aber sie nicht wüßte, was für eine.«
    »Deine Rose ist eine weise Blume«, sagte der Magier, ohne zu lächeln.
    »Aber ich weiß, ich muß - ich muß etwas tun, etwas sein. Darum wollte ich hierherkommen. Um das herauszufinden. Auf der Insel der Weisen.«
    Sie gewöhnte sich an sein seltsames Gesicht und konnte es auch lesen. Sie dachte, daß er traurig aussah. Seine Art zu sprechen war knapp, schnell, trocken, friedlich. »Die Männer der Insel sind nicht immer weise«, sagte er. »Vielleicht der Türhüter.« Er sah sie jetzt an, nicht verstohlen; sondern offen, und fing ihren Blick mit seinem ein. »Aber hier. Im Wald. Unter den Bäumen. Hier existiert die alte Weisheit. Niemals alt. Ich kann dich nicht lehren. Ich kann dich in den Hain mitnehmen.« Nach einer Minute stand er auf. »Ja?«
    »Ja«, sagte sie unsicher.
    »Ist das Haus in Ordnung?«
    »Ja . . .«
    »Morgen«, sagte er und ging fort.
    Und so kam es, daß Irian während der heißen Sommertage einen halben Monat oder länger im Otternhaus, wo es friedlich war, schlief und aß, was der Meister Formgeber in seinem Korb brachte - Eier, Käse, Gemüse, Obst, geräuchertes Hammelfleisch -, und jeden Nachmittag mit ihm in den Hain mit den hohen Bäumen ging, wo die Wege niemals exakt so zu sein schienen, wie sie sie in Erinnerung hatte, und häufig hatte sie den Eindruck, daß sie weit über die Grenzen des Waldes hinausführten. Sie gingen schweigend dort spazieren und sprachen selten, wenn sie ausruhten. Der Magier war ein stiller Mann. Obwohl es eine Spur Wildheit in ihm gab, zeigte er sie ihr nie, und seine Gegenwart war so angenehm wie die der Bäume und seltenen Vögel und vierbeinigen Geschöpfe des Hains. Wie er gesagt hatte, versuchte er nicht, sie zu lehren. Als sie ihn nach dem Hain fragte, sagte er ihr, daß er, genau wie der Kogel von Roke, schon existierte, als Segoy die Inseln der Welt gemacht hatte und alle Magie in den Wurzeln der Bäume wohnte, die mit den Wurzeln aller Wälder verflochten waren, die gewesen waren oder sein würden. »Und manchmal ist der Hain an diesem Ort«, sagte er, »und manchmal an einem anderen. Aber er ist immer.«
    Sie hatte nie gesehen, wo er lebte. In diesen warmen Sommernächten, dachte sie, schlief er wahrscheinlich, wo immer er Lust dazu hatte. Sie fragte ihn, woher das Essen kam, das sie zu sich nahmen; was die Schule selbst nicht zur Verfügung stellte, sagte er, das gaben die Bauern der Umgebung, denen als Gegenleistung der Schutz genügte, den die Meister für ihre Herden und Felder und Haine boten. Das leuchtete ihr ein. Auf Weg bedeutete »ein Magier ohne seinen Haferbrei« etwas Unvorstellbares, Unerhörtes. Aber sie war kein Magier, und um ihren Haferbrei zu verdienen, bemühte sie sich nach Kräften, das Otternhaus zu reparieren, wozu sie Werkzeuge von einem Farmer auslieh und Nägel und Mörtel in Thwil kaufte, denn sie hatte immer noch das halbe Käsegeld.
    Der Formgeber besuchte sie niemals vor der Mittagszeit, daher hatte sie die Vormittage zur freien Verfügung. Sie war an Einsamkeit gewöhnt, aber dennoch vermißte sie Rose und Daisy und Coney, die Hühner und Kühe und Milchschafe und die rüpelhaften, dummen Hunde sowie die ganze Arbeit, die sie zu Hause getan hatte, um Alt-Iria zusammenzuhalten und das Essen auf den Tisch zu bringen. Sie arbeitete jeden Morgen gemächlich, bis sie den Magier, dessen sonnenfarbenes Haar im Sonnenschein leuchtete, zwischen den Bäumen hervorkommen sah.
    Hier im Hain dachte sie nicht daran, etwas zu erarbeiten, zu verdienen oder auch nur zu lernen. Hier zu sein, das war genug, war alles.
    Als sie ihn fragte, ob Schüler aus dem Großhaus hierherkamen, sagte er: »Manchmal.« Ein andermal sagte er: »Meine Worte sind nichts. Hör auf die Blätter.« Das war das einzige, das er jemals sagte, das man als Lehre bezeichnen konnte. Wenn sie spazierenging, hörte sie auf die Blätter, wenn der Wind darin rauschte oder in den Baumwipfeln stürmte; sie verfolgte das Spiel der Schatten und dachte über die Wurzeln der Bäume unten in der Dunkelheit der Erde nach. Sie war durchaus damit zufrieden, hier zu sein. Und doch hatte sie, ohne Mißvergnügen oder Ungeduld, stets das Gefühl, daß sie wartete. Und diese stumme Erwartung war am deutlichsten und klarsten, wenn sie aus dem Schutz des Waldes trat und den freien Himmel sah.
    Einmal, als sie

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