Der siebte Schrein
unglücklichere Vorfälle zwischen Sulis´ Männern und den Einheimischen . . . meinem Volk, auch wenn es mir manchmal schwerfiel, mich daran zu erinnern. Nach dem Tod meiner Mutter kam ich mir manchmal vor, als wäre in Wahrheit ich die Verbannte, da ich mitten in meinem Heimatland von Namen und Gesichtern und Sprache der Nabbanai umgeben war.
Auch wenn uns dieser erste Winter nicht gefiel, wir überlebten ihn und machten weiter, wie wir angefangen hatten, ein Haushalt der Enteigneten. Aber wenn je ein Mann gerüstet war, das zu ertragen, dann mein Stiefvater.
Wenn ich ihn heute in Gedanken vor mir sehe, wenn ich mir die breite, hohe Stirn und das strenge Gesicht vorstelle, denke ich ihn mir als eine Insel, allein auf der anderen Seite eines gefährlichen Gewässers, nahe, aber nie von jemandem besucht. Ich war zu jung und zu schüchtern, um den Versuch zu wagen, über den Schlund zu rufen, der uns voneinander trennte, aber das spielte kaum eine Rolle - Sulis machte nicht den Eindruck eines Mannes, der seine Einsamkeit bedauert. Inmitten eines Zimmers voller Menschen hatte er den Blick stets auf die Wände gerichtet, statt auf die Leute, als könnte er durch den Stein schauen und einen besseren Ort sehen. Selbst in glücklichster und ausgelassenster Stimmung hörte ich ihn selten einmal lachen, und sein rasches, zerstreutes Lächeln deutete darauf hin, daß man die Witze, die ihm am besten gefielen, einem anderen nie richtig erklären konnte.
Er war kein böser Mann, nicht einmal ein schwieriger Mann, wie mein Großvater Godric einer gewesen war, aber wenn ich die grenzenlose Loyalität seiner Soldaten sah, fiel es mir manchmal schwer, sie zu verstehen. Tellarin hat mir gesagt, als er in Avalles´ Kompanie eingetreten sei, hätten ihm die anderen erzählt, wie Lord Sulis einmal zwei seiner verwundeten Leibeigenen durch einen Hagel von Pfeilen der Thrithingsmänner vom Schlachtfeld getragen hat - ein Ausflug für jeden. Wenn das stimmt, kann man leicht verstehen, warum seine Männer ihn liebten, aber in den hallenden Fluren des Hochhorsts gab es wenig Gelegenheit für ein derart offensichtliches tapferes Verhalten.
Als ich noch jung war, tätschelte Sulis mir den Kopf, wenn wir uns begegneten, oder stellte mir Fragen, die väterliches Interesse demonstrieren sollten, aber häufig verrieten, daß er nicht wußte, wie alt ich war und was ich gerne tat. Als ich frauliche Formen entwickelte, wurde er korrekter und förmlicher und machte mir auf dieselbe einstudierte Art und Weise Komplimente über meine Kleidung oder meine Stickereien, wie er die Bewohner des Hochhorsts an Ädonmansa begrüßte, wo er jeden Mann beim Namen nannte - er lernte sie aus der Kladde des Seneschalls -, wenn er an ihm vorbeiging, und ihm ein gutes Jahr wünschte.
Im Jahr nach dem Tod meiner Mutter wurde Sulis noch distanzierter, als hätte der Verlust ihn endgültig der täglichen Aufgaben entrückt, die er stets auf eine so steife, geübte Weise erledigt hatte. Er verwendete zunehmend weniger Zeit auf die Regierungsgeschäfte und las statt dessen stundenlang - manchmal die ganze Nacht hindurch, der mitternächtlichen Kälte wegen in dicke Gewänder eingemummt, und verbrannte Kerzen schneller als der ganze Rest des Hauses zusammengenommen.
Bei den Büchern, die er aus dem großen Haus seiner Familie in Nabban mitgebracht hatte, handelte es sich überwiegend um Folianten religiöser Unterweisung, aber auch um einige militärgeschichtliche und historische Werke. Gelegentlich gestattete er mir, einen Blick in eines zu werfen, aber obwohl ich lernte, konnte ich nur langsam lesen und mit den seltsamen Namen und Gerätschaften in den Schlachtenbeschreibungen wenig anfangen. Sulis besaß noch andere Bücher, die er nicht einmal mich sehen ließ, schlicht eingebundene Bände, die er in Holzkisten einschloß. Als ich das erste Mal sah, wie eines in seine Truhe zurückgelegt wurde, verfolgte mich die Erinnerung daran noch tagelang. Was waren das für Bücher, fragte ich mich, die man unter Verschluß halten mußte?
Eine der verschlossenen Kisten enthielt seine eigenen Schriften, aber das fand ich erst zwei Jahre später heraus, als die Nacht des Schwarzen Feuers fast über uns gekommen war.
Es war in der Zeit nach dem Tod meiner Mutter, da sah Lord Sulis mich, soweit ich mich erinnern kann, zum ersten und einzigen Mal wirklich, als er im grauen Licht las, das in den Thronsaal strömte.
Als ich ihn schüchtern fragte, was er machte, ließ er
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