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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Vergleich dazu schrumpfte alles andere in meinem Leben zur Bedeutungslosigkeit.
    Tatsächlich kam mir alles so verändert vor, als wäre eine neue, größere Sonne am Himmel über dem Hochhorst aufgegangen, die jeden Winkel mit ihrem Licht wärmte. Selbst die alltäglichsten Verrichtungen erhielten durch meine Gefühle für Tellarin mit seinen leuchtenden Augen eine neue Bedeutung. Meinem Katechismus- und Leseunterricht schenkte ich nun größte Aufmerksamkeit, damit mein Liebster mich nicht für ungebildet halten sollte . . . außer an den Tagen, an denen ich mich kaum darauf konzentrieren konnte, weil ich von ihm träumte. Meine Spaziergänge auf dem Gelände der Burg wurden zu Vorwänden, um nach ihm Ausschau halten zu können, in der Hoffnung auf einen raschen Blickwechsel über einen Innenhof oder einen Flur hinweg. Selbst die Märchen, die Ulca mir über unserer Stickerei erzählte, bislang lediglich ein angenehmer Zeitvertreib für mich, kamen mir vollkommen neu vor. Die Prinzen und Prinzessinnen, die sich ineinander verliebten, waren Tellarin und ich. Jeder Augenblick ihres Leidens brannte wie Feuer in mir, ihre Triumphe am Ende versetzten mich in eine solche Erregung, daß ich an manchen Tagen fürchtete, ich könnte tatsächlich ohnmächtig werden.
    Nach einer Weile lehnte Ulca, die etwas ahnte, aber nichts wußte, es rundweg ab, mir Geschichten zu erzählen, in denen geküßt wurde.
    Aber da hatte ich schon meine eigene Geschichte und lebte sie in vollen Zügen aus. Meinen ersten richtigen Kuß bekam ich beim Spaziergang in dem kargen, windzerzausten Garten, der im Schatten des Turms der Nordmänner lag. Hinterher kam mir dieses häßliche Bauwerk stets wunderschön vor, und selbst an den kältesten Tagen wurde mir warm, wenn ich den Turm sehen konnte.
    »Dein Stiefvater könnte meinen Kopf fordern«, sagte mein Soldat zu mir, während seine Wange sanft meine berührte. »Ich habe sein Vertrauen und meine Position mißbraucht.«
    »Wenn du ohnehin verdammt bist«, flüsterte ich, »kannst du auch noch einmal stehlen.« Und ich zog ihn tiefer in den Schatten und küßte ihn, bis meine Lippen wund waren. Ich fühlte mich lebendig wie niemals zuvor und verlor dabei fast den Verstand. Mich dürstete nach ihm, seinen Küssen, seinem Atem, dem Klang seiner Stimme.
    Er schenkte mir Kleinigkeiten, die man im nüchternen und zweckdienlichen Haushalt von Lord Sulis nicht finden konnte - Blumen, Bonbons, kleine Nippsachen, die er auf den Märkten der neuen Stadt Erkynchester vor den Burgtoren aufgetan hatte. Ich konnte es kaum über mich bringen, die Honigfeigen zu essen, die er mir brachte, nicht etwa weil sie zu teuer für seinen schmalen Geldbeutel waren - was der Fall war, denn er war nicht so wohlhabend wie sein Freund Avalles -, sondern weil es Geschenke von ihm waren, und daher kostbar. Etwas so Zerstörerisches zu tun, wie sie zu essen, schien mir eine unvorstellbare Verschwendung zu sein.
    »Dann iß sie langsam«, sagte er zu mir. »Sie werden deine Lippen küssen, wenn ich es nicht kann.«
    Natürlich gab ich mich ihm hin, vollkommen und rückhaltlos. Ulcas dunklen Andeutungen über befleckte Frauen, die sich im Königsee ertränkten, über Bräute, die entehrt zu ihren Familien zurückgeschickt wurden, selbst über uneheliche Geburten als Ursache für ein Dutzend schrecklicher Kriege wurde keine Beachtung geschenkt. Ich bot Tellarin nicht nur mein Herz, sondern auch meinen Körper dar. Wer hätte das nicht getan? Und wäre ich noch einmal das junge Mädchen, das aus dem Schatten seiner traurigen Kindheit in jenen strahlend hellen Tag tritt, würde ich es mit demselben Vergnügen wieder tun. Auch wenn ich heute einsehe, wie närrisch es war, kann ich dem Mädchen von damals keinen Vorwurf machen. Wenn man jung ist und das ganze Leben noch vor einem liegt, hat man keine Geduld - man kann nicht begreifen, daß es andere Tage gibt, andere Zeiten, andere Gelegenheiten. So hat Gott uns geschaffen. Wer weiß, warum Er sich so entschieden hat?
    Was mich betrifft, so kannte ich in jenen Tagen nichts außer dem Fieber in meinem Blut. Wenn Tellarin in finsterer Nacht an meine Tür klopfte, führte ich ihn zu meinem Bett. Wenn er mich verließ, weinte ich, aber nicht aus Scham. Er kam immer wieder zu mir, während der Herbst in den Winter überging, und im Lauf des Winters schufen wir uns unsere eigene warme, heimliche Welt. Ich konnte mir kein Leben mehr vorstellen, in dem er nicht jeden Augenblick bei mir

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