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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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sah, kaum zwanzig Jahre alt. Er war keine Schönheit - sein Gesicht war zu lang, die Nase zu frech, um einen der Engel zu zieren, wie sie in den Büchern meines Stiefvaters abgebildet waren -, aber ich fand ihn sehr, sehr hübsch. Er hatte den Helm abgenommen und ließ beim Reiten die Morgensonne auf sich scheinen, und sein goldenes Haar wehte im Wind vom See. Selbst mein ungeübtes Auge sah, daß er sehr jung für einen Kämpfer war, aber ich konnte auch sehen, daß die Männer, die mit ihm ritten, ihn bewunderten.
    Sein Blick fiel auf mich in der Menge, die meinen Vater umgab, und er lächelte, als hätte er mich wiedererkannt, obwohl wir einander vorher noch nie gesehen hatten. Mein Blut geriet in Wallung, aber ich wußte so wenig von der Welt und erkannte das Fieber der Liebe nicht.
    Mein Stiefvater umarmte Avalles, dann ließ er Tellarin und die anderen vor sich knien und jeden nacheinander den Treueid schwören, aber ich bin sicher, Sulis wollte die Zeremonie nur hinter sich bringen, damit er zu seinen Büchern zurückkehren konnte.
    Die Gruppe war vom Familienrat meines Stiefvaters in Nabban geschickt worden. Ein Brief des Rates, den Avalles überbrachte, berichtete davon, daß am Hof des Imperators in Nabban erneut gegen Sulis geredet wurde, was überwiegend von den Ädonitenpriestern ausging. Ein armer Mann mit verschrobenen, möglicherweise gottlosen Überzeugungen war eines, schrieb der Rat, aber wenn ein Adliger mit Geld, Ländereien und einem berühmten Namen dieselben Überzeugungen vertrat, betrachteten viele mächtige Leute ihn als eine Bedrohung. In Sorge um das Leben meines Stiefvaters hatte die Familie daher diese handverlesene Truppe mit der Warnung an Sulis geschickt, vorsichtiger denn je zu sein.
    Ungeachtet der grimmigen Mission der Schar wurden Nachrichten aus der Heimat stets begrüßt, und zahlreiche Soldaten der neuen Truppe hatten an der Seite von anderen Mitgliedern der Armee meines Stiefvaters gekämpft. Viele Freunde feierten frohes Wiedersehen.
    Als Lord Sulis endlich wieder zu seiner Lektüre zurückkehren durfte, aber bevor Ulca mich wieder ins Schloß bringen konnte, fragte Tellarin Avalles, ob er mir vorgestellt werden könne. Avalles selbst war ein dunkelhäutiger junger Mann mit breitem Gesicht und einem Bartflaum, nur wenige Jahre älter als Tellarin, hatte aber soviel vom Ernst der Familie Sulis in sich, daß er wie eine Art alberner älterer Onkel wirkte. Er drückte meine Hand zu fest und murmelte einige unbeholfene Komplimente darüber, wie hübsch die Blumen im Norden wuchsen, dann stellte er mich seinem Freund vor.
    Tellarin küßte mir nicht die Hand, hielt mich mit dem Blick seiner leuchtenden Augen aber um so wirksamer fest. Er sagte: »Ich werde diesen Tag nie vergessen, meine Dame«, und verbeugte sich. Ulca packte mich am Ellbogen und zog mich fort.
     
    Nicht einmal im Liebestaumel, der mein ganzes fünfzehntes Lebensjahr beherrschte, konnte ich übersehen, daß die Veränderungen, die nach dem Tod meiner Mutter in meinem Stiefvater vorgingen, schlimmer wurden.
    Lord Sulis verließ sein Gemach so gut wie nicht mehr, sonderte sich mit seinen Büchern und Schriften ab und kam nur noch zu den dringendsten Anlässen heraus. Die einzigen regelmäßigen Gespräche führte er mit Pater Ganaris, dem freimütigen Militärkaplan; er war der einzige Geistliche, der zusammen mit Lord Sulis Nabban verlassen hatte. Sulis hatte seinem alten Kampfgefährten die neu aufgebaute Kapelle der Burg überlassen, und sie gehörte zu den wenigen Orten, die der Gebieter des Hochhorsts immer noch besuchte. Allerdings schienen seine Besuche dem alten Kaplan nicht viel Freude zu bereiten. Einmal sah ich, wie sie sich voneinander verabschiedeten, und als Sulis sich umdrehte und mit hochgezogenen Schultern durch den starken Wind über den Innenhof zu unseren Quartieren zurückstapfte, sah Ganaris ihm mit einer Miene nach, die grimmig und traurig zugleich war - der Ausdruck eines Mannes, dessen alter Freund eine tödliche Krankheit hat.
    Wenn ich es versucht hätte, hätte ich vielleicht etwas tun können, um meinem Stiefvater zu helfen. Vielleicht hätte es einen anderen Weg als den gegeben, der uns zum Fuß des Baumes führte, der in der Dunkelheit wächst. Die Wahrheit ist jedoch, daß ich den Zeichen keine Beachtung schenkte, obwohl ich sie alle sah. Tellarin, mein Soldat, hatte begonnen, mir den Hof zu machen - anfangs nur mit Blicken und Grüßen, später mit kleinen Geschenken -, und im

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