Der siebte Schrein
mich das Buch auf seinem Schoß betrachten, eine wunderbar illustrierte Geschichte des Propheten Varris, deren Einband der goldgeprägte Reiher von Honsa Sulis zierte. Ich strich mit den Fingern über eine Abbildung, die zeigte, wie Varris auf dem Rad gemartert wurde.
»Armer, armer Mann«, sagte ich. »Wie er gelitten haben muß! Und alles, weil er seinen Gott nicht verleugnen wollte. Der Herr muß ihm ein schönes Willkommen im Himmel bereitet haben.«
Das Bild von Yarns´ Qualen wackelte ein wenig - ich hatte meinen Stiefvater so erschreckt, daß er zusammenzuckte. Ich schaute auf und stellte fest, daß er mich durchdringend ansah und seine braunen Augen eine solche Tiefe von mir unbekannten Empfindungen ausdrückten, daß ich einen Moment schreckliche Angst hatte, er könnte mich schlagen. Er hob seine gewaltige Pranke, aber sanft. Er berührte mein Haar und ballte die Hand zur Faust, ohne einmal diesen sengenden Blick von mir abzuwenden.
»Sie haben mir alles genommen, Breda.« Seine Stimme klang gepreßt von einem Schmerz, den ich nicht begreifen konnte. »Aber ich werde nie den Rücken krümmen. Niemals.«
Ich hielt unsicher und noch ein wenig ängstlich den Atem an. Einen Augenblick später fing sich mein Stiefvater wieder. Er hielt die Faust an den Mund und tat so, als würde er husten - er war der unfähigste Heuchler, den ich je kennengelernt habe -, und dann bat er mich, ihn zu Ende lesen zu lassen, solange das Licht noch anhielt. Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, wer ihm seiner Meinung nach alles weggenommen haben sollte - der Imperator und sein Hof in Nabban? Die Priester von Mutter Kirche? Möglicherweise sogar Gott und seine Armee der Engel?
Ich weiß aber, daß er mir zu sagen versuchte, was ihn innerlich verzehrte, jedoch nicht die Worte finden konnte. Ich weiß auch, daß sich zumindest in diesem Augenblick mein Herz nach dem Mann sehnte.
Mein Tellarin hat mich einmal gefragt: »Wie kann es sein, daß dich nie ein anderer Mann für sich beansprucht hat? Du bist wunderschön und die Tochter eines Königs.«
Aber wie ich schon sagte, Lord Sulis war nicht mein Vater und auch kein König. Und der Spiegel, der einst meiner Mutter gehört hatte, legte den Verdacht nahe, daß mein Soldat auch hinsichtlich meiner Schönheit zur Übertreibung neigte. Während meine Mutter hell und lichterfüllt gewesen war, war ich dunkel. Während sie einen langen Hals und ebensolche Gliedmaßen und volle Hüften gehabt hatte, war ich klein und schmal wie ein Knabe. Ich habe auf der Erde nie viel Platz gebraucht - und das werde ich darunter auch nicht. Wo immer mein Grab geschaufelt wird, viel Erde wird dabei nicht bewegt werden.
Aber Tellarin sagte es in der Sprache der Liebe, und Liebe ist eine Art Zauber, der jede Vernunft verbannt.
»Was kann dir an einem ungehobelten Mann wie mir liegen?« fragte er mich. »Wie kannst du einen Mann lieben, der dir keine Ländereien geben kann, außer der Farm, die man sich mit der Pension eines Soldaten leisten kann? Der deinen Kindern keinen Adelstitel vererben kann?«
Weil die Liebe nicht berechnend ist, hätte ich ihm sagen sollen. Die Liebe trifft Entscheidungen und hält sich rückhaltlos daran.
Hätte er sich so sehen können, wie ich ihn zum erstenmal gesehen habe, hätte er freilich keine Fragen gestellt.
Es war an einem Frühlingstag in meinem fünfzehnten Lebensjahr, und die Wachtposten hatten die Boote, die über den Königsee kamen, schon im Morgengrauen gesehen. Es waren keine gewöhnlichen Fischerboote, sondern Barken mit mehr als einem Dutzend Männer und ihren Schlachtrössern an Bord. Viele Bewohner der Burg hatten sich versammelt, um die Ankunft der Reisenden zu beobachten und von ihnen Neuigkeiten zu erfahren.
Als sie ihre sämtlichen Habseligkeiten ans Ufer gebracht hatten, saßen Tellarin und die anderen auf und ritten den Hügelpfad hoch und zu den Haupttoren herein. Die Tore selbst waren erst jüngst wieder aufgebaut worden - sie waren eine primitive Angelegenheit aus schweren, schmucklosen Balken, würden aber im Falle eines Krieges genügen. Mein Stiefvater hatte Grund zur Vorsicht, wie die Delegation, die an diesem Tag eintraf, beweisen sollte.
Eigentlich wurde Tellarins Freund Avalles als Befehlshaber dieser Männer bezeichnet, weil er ein Ritter zu Pferde war, einer der Neffen der Familie Sulis, aber man konnte unschwer erkennen, wem die Soldaten in Wahrheit die Treue hielten. Mein Tellarin war am Tag, als ich ihn das erste Mal
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