Der siebte Schrein
nie beiseite geräumt hatten, und der größte Teil der unteren Fassade war durch eine unvorstellbare Katastrophe geborsten und eingestürzt, so daß der unbearbeitete Stein des Fundaments zutage trat, aber dennoch ragte er in den Himmel wie ein gewaltiger weißer Fangzahn, höher als jeder Baum, höher als alles, was Sterbliche je erbaut hatten.
Aufgeregt, aber auch furchtsam fragte ich meine Mutter, ob der Turm nicht auf uns herabstürzen könne. Sie versuchte mich zu beruhigen und sagte, daß der Turm schon länger stehe, als ich mir vorstellen könne, vielleicht schon seit der Zeit, als noch keine Menschen am Königsee gelebt hatten, aber danach hatte ich nur um so seltsamere Empfindungen.
Die letzten Worte, die meine Mutter zu mir sagte, waren: »Bring mir eine Drachenklaue.«
Zuerst dachte ich, in den letzten Stunden ihrer Krankheit wäre sie in Gedanken zu unseren ersten Tagen in der Burg zurückgekehrt.
Die Geschichte vom Drachen des Hochhorsts, dem Geschöpf, das die letzten Nordmänner vertrieben hatte, war so alt, daß sie ihre furchteinflößende Wirkung größtenteils verloren hatte, aber auf ein kleines Mädchen verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Die Männer aus dem Gefolge meines Stiefvaters brachten mir Bruchstücke polierter Steine - später erfuhr ich, daß es sich um Bruchstücke der Fresken aus dem ältesten Teil der Burg handelten - und sagten zu mir: »Siehst du, hier ist ein abgebrochenes Stück der Klaue des großen roten Drachen. Er haust in den Höhlen unter dem Schloß, aber nachts kommt er manchmal herauf und schnuppert herum. Er schnuppert nach kleinen Mädchen, die er fressen kann!«
Die ersten paar Male glaubte ich ihnen. Als ich älter wurde und nicht mehr so leichtgläubig war, lernte ich, schon über die Vorstellung von einem Drachen zu lachen. Jetzt, wo ich eine alte Frau bin, quälen mich wieder Träume von ihm. Manchmal bilde ich mir sogar, wenn ich wach bin, ein, daß ich ihn drunten in der Dunkelheit unter dem Schloß spüren, die Augenblicke der Rastlosigkeit wahrnehmen kann, die seinen langen, tiefen Schlaf quälen.
Ich dachte also in jener Nacht vor langer Zeit, als meine sterbende Mutter mich bat, ihr eine Drachenklaue zu bringen, daß sie sich an etwas aus unserem ersten Jahr im Schloß erinnern würde. Ich wollte mich auf die Suche nach einem der alten Steine machen, aber ihre Zofe Ulca - die Nabbanai hätten sie als Kammerjungfer oder Leibdienerin bezeichnet - sagte mir, daß meine Mutter das nicht meinte. Eine Drachenklaue, erklärte sie mir, sei ein Zauber, der Leidenden helfe, die Gnade eines schnellen Todes zu finden. Ulca hatte Tränen in den Augen, und ich glaube, sie war Ädonitin genug, daß der Gedanke ihr Kummer bereitete, aber sie war auch eine verständige junge Frau und vergeudete keine Zeit mit Diskussionen darüber, ob es richtig oder falsch war. Sie sagte mir, so etwas könne ich auf die Schnelle nur von einer Frau namens Xanippa in der Siedlung bekommen, die unmittelbar an den Mauern des Hochhorsts entstanden war.
Ich war kaum zur jungen Frau herangereift, aber ich fühlte mich noch ganz wie ein Kind. Der bloße Gedanke an einen noch so kurzen nächtlichen Ausflug vor die Mauern der Burg ängstigte mich, aber meine Mutter hatte mich darum gebeten, und einer Sterbenden eine Bitte zu verwehren war eine Sünde, schon lange bevor Mutter Kirche daherkam und einteilte und aufzählte, was richtig und falsch im Leben war. Ich ließ Ulca an der Seite meiner Mutter zurück und lief rasch im Regen durch die finstere Burg.
Die Frau Xanippa war einst eine Hure gewesen, aber als sie älter und dicker wurde, hatte sie beschlossen, sich auf ein anderes Gewerbe zu verlegen, und sich einen Namen als Kräuterweib gemacht. Ihre baufällige Hütte, die an der südöstlichen Kurtine des Schlosses über dem Königswald stand, war von Rauch und üblen Gerüchen erfüllt. Xanippa hatte Haare wie ein Vogelnest, die mit einem einst hübschen Band hochgebunden waren. Ihr Gesicht mag einst rundlich und gemütlich gewesen sein, aber Jahre und Fett hatten es in etwas verwandelt, das aussah, als wäre es mit einem Fischernetz eingeholt worden. Außerdem war ihre Leibesfülle derart immens, daß sie sich während der ganzen Zeit, die ich dort war - und bei den meisten anderen Gelegenheiten, dachte ich mir -, nicht einmal von ihrem Hocker am Kamin erhob.
Anfangs begegnete Xanippa mir mit größtem Mißtrauen, aber dann fand sie heraus, wer ich war und was ich wollte, und als
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