Der siebte Schrein
war.
Auch dies war die Torheit der Jugend, denn ich habe es heute geschafft, viele Jahre ohne ihn zu leben. Seit ich ihn verloren habe, hat es sogar viel Erfreuliches in meinem Leben gegeben, auch wenn ich so etwas damals nie hätte glauben können. Ich glaube aber nicht, daß ich jemals wieder so intensiv, so wahrhaftig wie in jenem Jahr unbekümmerter Entdeckungsfreude gelebt habe. Es war, als hätte ich irgendwie gewußt, daß unsere gemeinsame Zeit kurz sein würde.
Ob man es nun Schicksal nennen will, unser Verhängnis, oder die Fügung des Himmels, heute kann ich zurückblicken und sehen, wie jeder von uns auf den Weg gebracht wurde, wie wir alle darauf vorbereitet wurden, an geheime, dunkle Orte zu reisen.
Es war eine Nacht im Monat Feyever jenes Jahres, als mir klar wurde, daß mehr als nur simple Zerstreutheit über meinen Stiefvater gekommen war. Ich tänzelte den Flur zu meiner Kammer hinunter - ich hatte Tellarin gerade im großen Saal einen Abschiedskuß gegeben und war außer mir vor Entzückung - und stieß beinahe mit Lord Sulis zusammen. Ich war zuerst erschrocken, dann regelrecht entsetzt. Mein Verbrechen, dessen war ich mir ganz sicher, mußte so offensichtlich sein wie Blut auf einem weißen Laken. Ich wartete bebend darauf, daß er mich beschuldigen würde. Statt dessen blinzelte er nur und hielt die Kerze höher.
»Breda?« sagte er. »Was machst du da, Mädchen?«
Er hatte mich seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr »Mädchen« genannt. Sein Haarkranz war zerzaust, als wäre er gerade selbst von einem Stelldichein gekommen, aber wenn dem so gewesen wäre, deutete sein bestürzter Ausdruck an, daß es kein erfreuliches gewesen war. Seine breiten Schultern hingen herab, und er schien so müde zu sein, daß er kaum den Kopf oben halten konnte. Der Mann, der meine Mutter am ersten Tag in Godrics Saal so beeindruckt hatte, hatte sich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Mein Stiefvater war in Decken gehüllt, aber unterhalb der Knie waren die bloßen Beine zu sehen. Konnte das derselbe Sulis sein, fragte ich mich, der sich, seit ich ihn kannte, jeden Tag mit derselben Sorgfalt angezogen hatte, mit der er einst seine Schlachtordnung geplant hatte? Der Anblick seiner blassen nackten Füße war über die Maßen beunruhigend.
»Ich . . . ich war rastlos und konnte nicht schlafen, Sire. Ich brauchte etwas frische Luft.«
Sein Blick fiel kurz auf mich und schweifte wieder zu den Schatten ab. Er sah nicht nur verwirrt aus, sondern wirklich verängstigt. »Du solltest deine Kammer nicht verlassen. Es ist spät, und diese Flure sind voll von . . .« Er zögerte, dann schien er sich zu verbeißen, was er ursprünglich sagen wollte. »Voll zugiger Winde«, sagte er schließlich. »Voll kalter Luft. Geh auf dein Zimmer, Mädchen.«
Alles an ihm verursachte mir Unbehagen. Als ich mich zurückzog, fühlte ich mich genötigt zu sagen: »Gute Nacht, Sire, und Gott segne Sie.«
Er schüttelte den Kopf - es war fast ein Erschauern -, drehte sich um und trottete davon.
Ein paar Tage später wurde die Hexe in Ketten auf den Hochhorst geführt.
Ich erfuhr erst, daß die Frau in die Burg gebracht worden war, als Tellarin mir davon erzählte. Als wir, nachdem wir uns geliebt hatten, aneinander gekuschelt in meinem Bett lagen, verkündete er plötzlich: »Lord Sulis hat eine Hexe gefangen.«
Ich war erschrocken. Selbst mit meiner geringen Erfahrung wußte ich, daß dies nicht das übliche Bettgeflüster war. »Was meinst du damit?«
»Sie ist eine Frau, die im Wald von Aldheorte lebt«, sagte er und sprach den erkynländischen Namen mit seiner üblichen bezaubernden Unbeholfenheit aus. »Sie kommt häufig auf den Markt in einer Stadt unten am Ymstrecca, östlich von hier. Sie ist dort bestens bekannt - sie macht Kräuterkuren, glaube ich, hext Warzen weg, derlei Unsinn. Jedenfalls hat Avalles das gesagt.«
Ich erinnerte mich an die Botschaft, die mir die einstige Hure Xanippa in der Nacht, als meine Mutter starb, für meinen Stiefvater mitgegeben hatte. Trotz der warmen Nacht zog ich die Decke über unsere feuchten Leiber. »Warum sollte Lord Sulis sie verhaften?« fragte ich.
Tellarin schüttelte unbekümmert den Kopf. »Weil sie eine Hexe ist, denke ich, und damit ist sie gegen Gott. Avalles und einige der anderen Soldaten haben sie festgenommen und heute abend hierhergebracht.«
»Aber es gibt Dutzende Wurzelgräberinnen und Zauberweiber in der Küstenstadt, wo ich aufgewachsen bin, und vor
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