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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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einschätzte.
    Keine Glöckchen, sondern Insekten. Die Ärzte-Käfer. Sie sangen im Salbei und hörten sich ein wenig wie Grillen an, nur weitaus lieblicher.
    »Jenna?«
    Keine Antwort . . . es sei denn, die Käfer antworteten. Denn ihr Gesang verstummte plötzlich.
    »Jenna?«
    Nichts. Nur der Wind und der Duft von Salbei.
    Ohne nachzudenken, was er tat (wie die Schauspielerei gehörte auch logisches Denken nicht zu seinen Stärken), bückte er sich, hob die Haube auf und schüttelte sie. Die Dunklen Glocken ertönten.
    Einen Augenblick geschah nichts. Dann kamen tausend winzige Geschöpfe aus dem Salbei gekrochen und versammelten sich auf dem rissigen Erdboden. Roland dachte an das Bataillon, das am Bett des alten Mannes heruntergekrabbelt war, und wich einen Schritt zurück. Dann hielt er die Stellung. Wie die Käfer ihre.
    Er glaubte zu verstehen. Teilweise beruhte dieses Verstehen darauf, wie sich Schwester Marys Fleisch unter seinen Händen angefühlt hatte . . . wie es sich veränderlich angefühlt hatte, nicht eins, sondern viele. Teilweise beruhte es auf dem, was sie gesagt hatte: Ich habe mit ihnen gespeist. Solche wie sie starben vielleicht nie . . . aber sie konnten sich verändern.
    Die Insekten erschauerten, eine dunkle Wolke, die die weiße, feine Erde bedeckte.
    Roland schüttelte die Glocken wieder.
    Ein Erschauern lief wie eine feine Welle durch die Käfer, und dann bildeten sie einen Umriß. Sie zögerten, als wüßten sie nicht, wie sie weitermachen sollten, zogen sich zurück, fingen von vorne an. Was sie schließlich auf dem weißen Sand zwischen den wehenden Büscheln fliederfarbenen Salbeis formten, war einer der großen Buchstaben: der Buchstabe C.
    Aber es war gar kein Buchstabe, sah der Revolvermann; es war eine Locke.
    Sie fingen an zu singen, und für Roland hörte es sich an, als würden sie seinen Namen singen.
    Die Glocken fielen aus seiner kraftlosen Hand, und als sie auf den Boden prallten und dort läuteten, löste sich die Masse der Käfer auf und zerstob in alle Richtungen. Er überlegte, ob er sie zurückrufen sollte - wenn er mit den Glocken läutete, könnte es ihm gelingen -, aber zu welchem Zweck? Mit welchem Sinn?
    Frag mich nicht, Roland, ´s ist geschehen, die Brücke verbrannt.
    Trotzdem war sie ein letztesmal zu ihm gekommen und hatte ihre Willenskraft auf tausend verschiedene Teile ausgedehnt, die die Fähigkeit zu denken verloren haben sollten, als das Ganze den Zusammenhalt verlor . . . und doch hatte sie irgendwie gedacht - ausreichend, um den Umriß zu formen. Wieviel Anstrengung mochte das gekostet haben?
    Sie schwärmten weiter und weiter aus, manche verschwanden im Salbei, manche krabbelten an den Wänden des Felsüberhangs hinauf und verschwanden in Ritzen, wo sie vielleicht abwarten würden, bis die Hitze des Tages vorüber war.
    Alle waren fort. Sie war fort.
    Roland setzte sich auf den Boden und schlug die Hände vor das Gesicht. Er glaubte, er müsse weinen, aber der Drang ließ zur rechten Zeit nach; als er den Kopf wieder hob, waren seine Augen so trocken wie die Wüste, in die er dereinst gelangen sollte, immer noch auf der Spur von Walter, dem Mann in Schwarz.
    Wenn es eine Verdammnis gibt, hatte sie gesagt, dann soll es die meiner Wahl sein, nicht ihrer.
    Er wußte selbst ein wenig über die Verdammnis . . . und er hatte den Verdacht, daß ihre Lektionen längst nicht beendet waren, sondern gerade erst angefangen hatten.
    Sie hatte ihm die Tasche gebracht, in der sein Tabak war. Er drehte sich eine Zigarette und rauchte sie, auf die Knie gekauert. Er rauchte sie bis auf eine winzige Kippe, während er ihre leere Kleidung betrachtete und an den festen Blick ihrer dunklen Augen dachte. An die Brandwunden an ihren Fingern von der Kette des Medaillons. Und dennoch hatte sie es aufgehoben, weil sie gewußt hatte, daß er es haben wollte; hatte die Schmerzen in Kauf genommen, und nun trug Roland beide um den Hals.
    Als die Sonne ganz aufgegangen war, zog der Revolvermann weiter nach Westen. Mit der Zeit würde er ein anderes Pferd finden, oder ein Maultier, aber im Augenblick war er damit zufrieden, zu laufen. Den ganzen Tag quälte ihn ein klingelndes, singendes Geräusch in den Ohren, ein Geräusch wie das der Glocken. Mehrmals blieb er stehen und drehte sich um, überzeugt, daß er einen dunklen Umriß sehen würde, der über den Boden strömte, ihm folgte, wie uns die Schatten unserer besten und schlimmsten Erinnerungen folgen, aber es war nie ein Umriß

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