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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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zur Dämmerung würden mindestens noch drei Stunden vergehen. Der liebliche Duft von Salbei umgab sie. Ein purpurner Duft dachte er dann . . . und auch später. Er konnte bereits spüren, wie der Duft eine Art Zauberteppich unter ihnen wob, auf dem er bald in den Schlaf schweben würde. Er dachte, daß er noch nie so müde gewesen war.
    »Roland, ich weiß es nicht.« Aber er glaubte, daß sie es da schon gewußt hatte. Ihre Mutter hatte sie einmal zurückgebracht; noch einmal würde sie keine Mutter zurückbringen. Und sie hatte mit den anderen gegessen, hatte die Kommunion der Schwestern empfangen. Ka war ein Rad; es war auch ein Netz, aus dem keiner je entkam.
    Aber da war er zu müde, um viel darüber nachzudenken . . . und was hätte das Nachdenken auch genutzt? Wie sie gesagt hatte, die Brücke war verbrannt. Selbst wenn sie in das Tal zurückkehrten, dachte Roland, würden sie nichts anderes finden als die Höhle, die die Schwestern Haus der Besinnung genannt hatten. Die überlebenden Schwestern würden ihr Zelt der schlimmen Träume zusammengepackt haben und weitergezogen sein - nur ein Geräusch von Glocken und singenden Insekten, die in der nächtlichen Brise entschwanden.
    Er sah sie an, hob eine Hand (die sich schwer anfühlte) und berührte die Locke, die ihr wieder in die Stirn hing.
    Jenna lachte verlegen. »Die entkommt mir immer. Sie ist eigensinnig. Wie ihre Herrin.«
    Sie hob eine Hand, um sie wieder zurückzustecken, aber Roland hielt ihre Finger, bevor sie es konnte. »Sie ist wunderschön«, sagte er. »Schwarz wie die Nacht und schön wie die Ewigkeit.«
    Er richtete sich auf - was Anstrengung kostete; Müdigkeit zerrte wie sanfte Hände an seinem Körper. Er küßte die Locke. Sie machte die Augen zu und seufzte. Er spürte, wie sie unter seinen Lippen zitterte. Die Haut ihrer Stirn war sehr kalt; die dunkle Kurve der eigensinnigen Locke wie Seide.
    »Schieb deine Haube zurück, wie du es schon mal getan hast«, sagte er.
    Sie gehorchte wortlos. Einen Augenblick sah er sie nur an. Jenna erwiderte den Blick ernst, ohne den Blick von seinem abzuwenden. Er strich mit den Händen durch ihr Haar und spürte sein sanftes Gewicht (wie Regen, dachte er, Regen mit Gewicht), dann nahm er sie an den Schultern und küßte beide Wangen. Er wich einen Moment zurück.
    »Würdest du mich küssen, wie ein Mann eine Frau küßt, Roland? Auf den Mund?«
    »Aye.«
    Und er küßte ihre Lippen, woran er schon gedacht hatte, als er noch in dem Seidenzelt des Lazaretts lag. Sie erwiderte den Kuß so bezaubernd unbeholfen wie jemand, der vorher noch nie geküßt hat, außer vielleicht im Traum. Da überlegte Roland, ob er mit ihr schlafen sollte - es war lange, lange her, und sie war wunderschön -, aber statt dessen schlief er ein, während er sie noch küßte.
    Er träumte von dem Kreuzhund, der bellend durch eine weite, offene Landschaft lief. Er folgte ihm, weil er den Grund für seine Aufregung erfahren wollte, was auch bald geschah. Am gegenüberliegenden Rand der Ebene stand der Dunkle Turm, dessen rußige Mauersteine sich vor dem düsteren orangeroten Ball einer untergehenden Sonne abzeichneten und dessen furchteinflößende Fenster spiralförmig aufwärts verliefen. Bei diesem Anblick hörte der Hund auf zu bellen und fing an zu heulen.
    Glocken - besonders schrill und schrecklich wie ein Weltuntergang - ertönten. Dunkle Glocken, das wußte er, aber ihr Klang war hell wie Silber. Als sie zu läuten anfingen, glomm ein tödliches rotes Licht in den dunklen Fenstern des Turms - das Rot vergifteter Rosen. Ein Schrei unerträglicher Schmerzen hallte in die Nacht.
    Der Traum verwehte binnen eines Augenblicks, aber der Schrei blieb und ging in ein Stöhnen über. Dieser Teil war real - so real wie der Turm, der düster an seinem Platz am äußersten Ende von Endwelt wartete. Roland erwachte in der Helligkeit der Dämmerung und dem milden Purpurduft von Wüstensalbei. Er hatte beide Revolver gezogen und stand auf den Füßen, noch ehe ihm völlig klar wurde, daß er wach war.
    Jenna war fort. Ihre Stiefel lagen leer neben seiner Tasche. Ein Stück davon entfernt lag ihre Jeans so flach wie abgestreifte Schlangenhäute. Über ihnen ihr Hemd. Zu seinem Erstaunen stellte Roland fest, daß es noch in der Hose steckte. Dahinter lag ihre leere Haube mit dem Band der Glocken auf dem pulverförmigen Sand. Einen Augenblick dachte er, daß sie läuteten, weil er das Geräusch, das er hörte, zuerst falsch

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