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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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gütiger Mensch, seine Hand an Zinni legt, um ihn wegzuführen, dann wird Lilja …« Rosa schluckte und senkte den Blick. »Sie wird es nicht geschehen lassen.«
    Einen stolpernden Herzschlag lang war es so, als ob dunkle Schwingen über das Dickicht strichen, und die Blätter rauschten laut. Ein grünes Kleid wehte flatternd zwischen schwarzen Bäumen, große dunkle Augen öffneten sich weit, und ein schöner Mund verzerrte sich und spie Nacht und Tod wie böse Reiter auf rätselhaften Worten über das Land. Mina kauerte sich zusammen, hielt den Atem an, bis das Bild zerfaserte und sich im grauen Morgen auflöste.
    Neben ihr seufzte Rosa und wischte sich die Tränen ab.
    »Darum«, sagte sie, leiser, sanfter, wie ein beruhigendes Streicheln, »darum kann Pipa nicht in der Nähe dieses Hauses sein. Pipa, die selbst noch viel mehr ein Kind als ein Mädchen ist. Vielleicht verstehst du es jetzt. Sie kann es nicht, obwohl sie vieles geben würde, um so mutig zu sein wie du.«
    Sie verstummte.
    Ein Gedanke stahl sich in Minas Kopf; heimlich, unter dem Kummer, den sie für die Tater fühlte, unter dem Staunen darüber, dass es etwas geben konnte, um das Pipa sie
beneidete. Den ganzen langen Weg über hatte sie geglaubt, es wäre Karols Drehorgel gewesen, die nach ihr gerufen hatte, mit dem Lied, das die Spieluhr spielte. Jetzt dachte sie zum ersten Mal daran, dass es vielleicht genau andersherum gewesen war. Vielleicht war es die Spieluhr gewesen, die für sie ihren Hilferuf über das Land gesungen hatte, aus dem kleinen Dachbodenfenster, weit hinaus; und die Drehorgel hatte sie gehört und geantwortet. Die Drehorgel und mit ihr die einzigen Menschen, die verstehen würden.
    Sie hätte gern mit Rosa geweint.
    Aber ihre Augen blieben trocken und brannten, und sie sah vor sich hin, wie Rosa es tat. Und dann schwiegen sie gemeinsam, eine lange Zeit.
     
    Endlos kroch der Tag über sie hin, grauweiße Wolken, die sie in ihrer Kuhle niederdrückten. Obwohl auf dem verborgenen Weg hinter ihnen alles still blieb, wagten sie es kaum, die Köpfe über das Gesträuch zu heben. Die Straße war so nah … Bald kniff es Mina in allen Gliedern, in den Beinen vor allem. So leicht es gewesen war, Stunden um Stunden auf der Landstraße zu laufen oder im Wald, so schwer fiel es ihr jetzt, reglos, geduckt zu kauern. Wie die kleinen Feldhasen es wohl aushielten, wenn sie auf ihre Mütter warteten? Aber sie hatten wenigstens Fell, weich und behaglich, und sie konnten am Löwenzahn knabbern, an Gräsern und Wurzeln. Für zwei Menschenmädchen war die Erde hart und die kahlen Ranken kratzig, und es gab nichts, was sie hätten essen können. Selbst für Sauerampfer war es noch zu früh im Jahr. Dabei hätte er auch den Durst stillen können, das trockene Schaben in der Kehle, das sie quälte. Die Luft unter den Wolken war schwül.

    Auch von dem Haus unter dem roten Dach hörten sie kein Geräusch, den ganzen Tag über nicht. Vielleicht war es zu weit entfernt, vielleicht lag die Schwüle wie dämpfende Watte auf allen Lauten. Aber Mina dachte an den Steinfries über dem Tor, die Bilder der Kinder, die webten, spannen, fegten. Eines, was spielte, was lachend einem Ball hinterherrannte oder einen Reifen schlug, war nicht dabei gewesen. Nein, kein Einziges. Und die Stille dort drüben hinter der hohen Mauer machte sie frösteln, trotz aller Schwüle.
    Vielleicht fühlte Rosa wie sie. Gegen Mittag, als Mina es vor Hunger kaum noch aushielt und nicht mehr wusste, wie sie sich noch hinsetzen sollte, fing Rosa an, eine Melodie zu summen, leise wie eine Biene in der Ferne. Nach und nach kamen Worte dazu, geflüstert, aber doch klar und hörbar getragen von ihrer hohen, glaszarten Stimme. Sie waren fremd und sonderbar, rätselhaft wie Zaubersprüche. Aber in ihren eigentümlichen Lauten trugen sie den Geruch von Rinde mit sich, und dunkelgrünen Schatten.
    » Oh na cinger luluya «, sang Rosa leise; luluya , was für ein seltsam schönes Wort, dachte Mina und lauschte seinem Klang hinterher. » Oh na cinger luluya / So tuke phenen, shuna: Jivar cag andro nikai / Niko tatyarel nikai / Sam aiso romani cai. Sam aiso romani cai … «
    Sie sah auf, der Zauber, den Mina spürte, spiegelte sich in ihrem Lächeln.
    » Bin ja, wie du, ein Taterkind … Es ist nur ein kleines, altes Lied, Mina, das mit uns gezogen ist, in der alten Sprache. Ich weiß nicht einmal mehr, woher es kam. Willst du wissen, was es bedeutet?«
    Mina nickte heftig, und Rosa lachte. Sie

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