Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
nach vorn. Unter ihr wurde Rosas Stimme ein drängendes Zischen.
»Nein, Mina, nein!«
Sie spürte die Bewegung im Baum, als Rosa versuchte, hinter ihr herzuklettern. Ihre Hand streckte sich wie von selbst, raue Steine und Mörtel kratzten an ihren Fingern. Wenn sie ihr Gewicht jetzt so verlagerte, dass sie das Bein auf diese Weise anziehen konnte … Wenn sie den Arm noch weiter streckte und sich mit dem anderen festhielt …
Der Ruck riss an ihren Gelenken, sie hing an der Mauerkrone und schlug mit dem ganzen Körper einmal heftig gegen die Steine. Staub brannte in der Wunde auf ihrer Wange. Ihre Finger fühlten sich an, als würden sie aus den Knöcheln gezerrt.
»Mina«, hörte sie Rosa rufen, »Mina, Mina!«
Ich gehe, dachte sie noch einmal. Jetzt, Pipa.
Und dann ließ sie sich fallen.
Die Dunkelheit auf dem Boden empfing Mina hart. Sie stürzte nach vorn auf die Knie, schaffte es gerade noch, sich mit den Händen abzufangen, bevor ihr Gesicht über die gestampfte Erde schrapte. Hinter der Mauer hörte sie immer noch Rosas verzweifeltes Rufen.
Mühsam rappelte sie sich auf. Stützte sich an der Mauer ab, wie die junge Eiche, die jetzt gelassen zu ihr heruntersah. Alles, was ihr einfiel, war, in einer Mörtelrinne mit den Fingernägeln zu kratzen, so laut, wie sie es wagte.
Rosas Stimme verstummte für einen Augenblick. Dann hörte Mina sie wieder, ruhiger, eindringlicher auch.
»Kratz, wenn es dir gutgeht, Mina.«
Sie tat es, und obwohl sie es nicht hören konnte, fühlte sie den erleichterten Seufzer, den Rosa auf der anderen Seite ausstieß.
»Kannst du irgendetwas sehen? Kratz einmal für Ja, zweimal für Nein.«
Mina fuhr zweimal mit den Nägeln über die Mörtelrinne. Die Haut an den Fingerkuppen fing an zu beißen.
»Du musst so schnell wie möglich wieder herauskommen, hörst du? Diese einsamen Häuser halten oft Hunde!«
Sie zuckte zusammen, Bilder von Schattenfell und grellen Zähnen überschlugen sich in der Dunkelheit. Gleichzeitig wusste sie, dass Rosa Recht hatte. Auch zu Hause hielten sie Kettenhunde gegen ungebetenen Besuch - und sie waren nicht darauf abgerichtet, zwischen einem Einbrecher und einem törichten Mädchen zu unterscheiden.
Aber noch blieb alles still, und ihr Pulsschlag beruhigte sich langsam wieder.
»Mina«, flüsterte Rosa, »hörst du mich noch? - Es gibt bestimmt eine Tür, eine Hintertür. Du weißt doch, die gibt es immer. Und immer ist sie offen, obwohl sie verschlossen sein sollte. Hörst du, Mina? Es ist wie … wie ein Gesetz. Hintertüren sind niemals verschlossen.«
Sie schwieg einen Moment, und Mina kratzte ihr »Verstanden« in die Mauer.
»Beeil dich«, sagte Rosa. »Ich warte auf dich, beeil dich. Und bitte, Mina - pass gut auf dich auf.«
Danke, Rosa. Rosa Luluya, wisperte Mina mit geschlossenem Mund. Sie kratzte noch einmal, wie zum Abschied. Dann ging sie auf das Gebäude zu.
Ihre nackten Füße machten kein Geräusch. Wie ein Schatten unter Schatten war sie, lautlos, und in dem dunklen Kleid beinahe unsichtbar. Sie versteckte ihre weißen Hände in den Ärmeln, ließ sich die Haare über das Gesicht fallen. Ein Schutz, ein Tarnumhang … Zwischen den Strähnen hindurch sah sie das Haus näher kommen.
Die helleren Vierecke starrten ihr blind entgegen. Rechts schien das Haus am Ende gegen die Mauer zu stoßen; links lag hinter einer steilen, schwarzen Kante noch tiefere Dunkelheit. Dort musste es um die Hausecke gehen. Nach vorne, zu einem Eingang vielleicht. Aber Mina zögerte.
Es war ein Tor auf dieser Seite, oder nicht? Ein großes Tor, auch wenn es verschlossen war. Vielleicht wurde es nicht mehr benutzt, aus welchen Gründen auch immer, aber einmal musste es eine Funktion gehabt haben. Und eine Funktion hatte es nur, wenn es beim Tor auch eine Tür ins Haus gab. War sie auch zugemauert worden? Oder hatte man sie
mehr oder weniger vergessen, und sie war jetzt eine Art … Mina fühlte die Aufregung in ihren Adern klopfen. Eine Art - Hintertür?
Sie schob sich an der Hauswand entlang, tastete und suchte im Schutz ihres weiten Rockes mit beiden Händen. Stein und Stein, rauer Mörtel, ein altes, schartiges Sims. Stein und Stein, und dann - Holz, hinter einer scharfen Kante. Zitternd stieß sie den Atem aus.
Ihre Finger fanden eine Klinke, ohne dass sie danach suchten. Sie fielen einfach darauf, schlossen sich ohne ihr Zutun um das kalte Metall.
Wie ein Gesetz, dachte Mina, so deutlich, wie sie nur konnte. Ein Gesetz, dass es immer
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