Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
abgewandt und schluckte schwer, als würge sie an den scharfen Schmerzspitzen, die in ihren Worten gesteckt hatten. Mina hatte ihn schon einmal gehört, diesen Schmerz, aus Liljas schönem, weitem Mund; wie Blutstropfen war er ins Gras geregnet, im Taterlock, vor ewiger Zeit. Als Mina zum ersten Mal ausgesprochen hatte, was vorher nur eine Ahnung gewesen war: dass sie nach ihren Brüdern suchte. Sie streckte die Hand aus, wie sie es damals nicht gewagt hatte, und streichelte behutsam eine der langen Haarsträhnen auf Rosas Schultern.
»Komm«, sagte Rosa, ohne sie anzusehen; aber ihre Hand legte sich auf Minas und hielt sie fest. »Komm, wir verstecken uns tiefer im Gebüsch, bis es wieder dunkel wird. Wie die Rehkitze«, sie lachte kurz und scharf, »oder wie die Hasen. Wir verstecken uns, und ich erzähle dir etwas, von Waisenhäusern
und von Zigeunern; und vom Tod, der in einer gestärkten Schürze daherkommt.«
Und Rosa erzählte Mina vom Tod, während sie sich in einer Kuhle unter Gestrüpp aneinanderkauerten und der steigende Tag die Blätter langsam grau verfärbte. Vom Tod, der ein freundliches Gesicht besitzt, gütige Augen und die besten Absichten. Der weit offene Arme hat und einen langen Rock, an dem es sich gut weinen lässt. Der in einer Küche steht und Haferbrei in riesigen Töpfen rührt für viele hungrige Mäuler; der von außen betrachtet nicht mehr ist als eine ältere, mütterliche Frau mit abgearbeiteten Händen, die viel zu viele Kinder zu versorgen hat.
Sie drängen sich um sie, vor allem die Kleinen, betteln um Aufmerksamkeit, ein freundliches Wort, eine Berührung. Manche hat man in Zeitungspapier eingewickelt in einem löchrigen Wäschekorb gefunden, manche irrten allein durch Stadtstraßen. Kinder von Eltern, die sich ins Grab tranken; Kinder von Kindern, aus der Familie verstoßen, Kinder von jungen Mädchen, verflucht für einen Kuss, der nach mehr schmeckte, nach zu viel. Hat man nicht Mitleid mit ihnen, wenn man sie sieht, die armen kleinen Wesen, ist man nicht froh für sie, dass jemand kam und sie in Sicherheit brachte? Auch wenn die Sicherheit ein großes, kalte, graues Haus ist mit zu vielen kleinen weißen Betten.
Rosa fuhr sich über die Stirn, wischte Haarsträhnen fort, die nicht da waren. Ihre Stimme wurde lauter, härter.
»Natürlich ist man froh, dass jemand sich um sie kümmert. Aber die junge ledige Mutter, was ist mit ihr? Hat sie nicht geweint und geschrien und gebettelt, als der Amtmann kam und die gütige ältere Frau in der steifen Schürze? Hat sie sich nicht festgeklammert an dem kleinen Wesen, dem einzigen Menschen vielleicht, der sie jemals geliebt hat? Was bleibt ihr, wenn man es ihr fortgenommen hat? Das Arbeitshaus. Oder der Fluss. Und niemand, der sie vermissen wird. Selbst aus dem Kopf des Kindes wischt die freundliche Hand mit den Jahren jede Erinnerung.«
Rosa presste die Hände zu Fäusten zusammen.
»So stirbt sie, Mina, selbst wenn sie noch am Leben ist. Nichts bleibt bei ihrem Kind von ihr. Nichts von ihren langen weichen Haaren, nichts von ihrer sanften Stimme; nichts von ihrem Geruch, den kein Duft nach frischer Wäschestärke je ersetzen kann. Alles vergeht, was sie ihm hätte sagen können, zeigen und beibringen. Und alles, was ihr Kind hätte sein können, wenn es … wenn es nur bei ihr geblieben wäre.«
Rosa starrte auf die Fäuste in ihrem Schoß.
Mina wagte kaum zu atmen. Rosas Stimme brannte und biss in ihr, alle blütenhafte Lieblichkeit zerrissen von Schmerz und Zorn. Schon einmal hatte sie sie so reden gehört, auf der Nachtlichtung, gegen Viorels abgewandtes Gesicht. Es war furchtbar, sie nun wieder so zu hören, furchtbar, dass es Minas Schuld war. Selbst das Gestrüpp, was um sie her zitterte, schien sich zu wünschen, dass dieser scharfe, unnachsichtige Ton verstummen möge.
Aber Mina verstand nicht, noch immer nicht. Und sie musste verstehen.
Sie brauchte nicht im Bündel nach dem Selam zu suchen. Als sie sich umsah, war da nur Gesträuch, und ein einzelner, kleiner Moosflecken, als ob der Wald ihn hier verloren hätte. Sie brach einen dünnen Zweig ab, schob vertrocknete Blätter vor ihren Knien beiseite. Die Zeichnung, die sie in den Boden ritzte, war krude und einfach. Aber die Nachmittage zu Hause im Gewächshaus kamen ihr zu Hilfe, denn Rosa beugte sich fragend über die wenigen Striche, und als sie die Hand vor den Mund schlug, wusste Mina, dass sie erkannt hatte, was dort in den Staub gekratzt war: eine
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