Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Hyazinthe.
Mina strich darüber, ohne die Zeichnung zu berühren; die andere Hand legte sie auf den Moosflecken. Dann sah sie Rosa an und hoffte mit aller Kraft, dass Rosa von ihrer Mutter gelernt hatte, wie die Blumen miteinander sprachen. Es war die einzige Möglichkeit herauszufinden, was sie wissen musste.
Rosa hielt den Kopf gesenkt, sah von einer Hand zur anderen.
»Das Moos«, sagte sie leise, wie zu sich selbst, »ist die Mutter, die Liebe der Mutter. So weich und federnd, dass selbst der tiefste Fall noch aufgefangen werden kann. Und grün - so grün wie Liljas Kleid.«
Mina nickte erleichtert. Aber als Rosa zurück zu der Blumenzeichnung sah, fing sie auf einmal an zu lachen, ein bitteres, brüchiges Lachen, das Mina in den Ohren schmerzte.
»Die Mutter - Lilja - und die Hyazinthe … Ach, kleine Mina, du weißt nicht, was du da sagst.«
Sie fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, als wollte sie das bittere Lachen fortwischen. Ein Rest davon blieb wie ein Stachel in ihrer Stimme stecken.
»Hyazinthe … Hyazinth«, sagte Rosa. »Nicht Zinni, Mina, hörst du? Hyazinth. Es klingt so ähnlich, das ist wahr; und sie waren sich auch ähnlich, so ähnlich, wie ein Vater und sein Sohn sich nur sein können. Zinni ist nicht Liljas Kind. Nicht Lilja war es, der man ihn weggenommen hat, einmal, vor gar nicht langer Zeit. Auch wenn sie es war, die ihn zu uns zurückbrachte. Sie ist seine Großmutter, nicht seine Mutter.«
Irgendwo in der Verwirrung fühlte Mina, dass sie das eigentlich schon gewusst hatte. Ein Wort im Gespräch, irgendwo, eine Bemerkung, die sie nur gestreift hatte - ein Gedanke, kurz aufgenommen und wieder fallengelassen, als andere Dinge sich nach vorn drängten. Aber wenn Lilja es nicht war - wer war es dann? Wessen Geschichte war es, die Rosa erzählte?
»Hyazinth«, sagte Rosa, und die Worte kamen schwer aus ihrem Mund, wie vollgesogen mit Trauer, »Hyazinth war Zinnis Vater. Und seine Mutter war … Aglaia.«
Wie beißendes Salzwasser hervorgestoßen, das letzte Wort, und doch konnte Mina noch ahnen, wie schön es einmal geklungen hatte. Wie Libellen über einem verborgenen Teich, an einem stillen Sommernachmittag. Sie seufzte unwillkürlich, ohne Laut.
Rosa wandte den Kopf ab.
»Drei Schwestern waren wir, drei Schwestern, wie im Märchen, und Aglaia, die Älteste, war die Schönste von uns. Wie die Flügel von Schmetterlingen war sie, so zart, so leicht, so hell und so fröhlich. Weißt du«, fragte Rosa
stockend, »was mit einer Familie geschieht, der man ein Kind wegnimmt? Wegnimmt ohne jeden Grund, nur weil sie nicht in einem Haus lebt wie alle anderen? Kannst du dir vorstellen, wie die Mutter schreit, wie der Vater wie von Sinnen ist? Wie sie alles versuchen, alles, alles!, um es zurückzubekommen? Und dann sagen die Menschen, die Zigeuner stehlen Kinder! Wir würden die Kinder stehlen!«
Bebend sah Mina das sprudelnde Wasser des kleinen Bachs beim Taterlock vor sich, die schuppigen Ärmchen der Wechselbälger. Sie plätscherten so laut, Rosa musste sie gehört haben, denn sie sagte:
»Manchmal stehen Wiegen leer, wenn Tater durch einen Ort gezogen sind. Manchmal bleibt ein kleines weißes Bett in einem Waisenhaus nachts frei, wenn ein Tater in den Hof kam zum Betteln. Es zieht die Kielkröpfe an, so ein feines, weiches Kissen. Aber wir legen sie nicht hinein. Wir holen nur das zurück, was zu uns gehört. Das, was man uns gestohlen hat. Unsere kleinen Geschwister. Unsere Neffen und Nichten. Unsere …«, sie atmete lang und zitternd aus, »unsere Kinder.«
Sie hob den Kopf plötzlich, Tränenspuren auf den Wangen.
»Wie du, Mina«, sagte sie und sah ihr ins Gesicht. »Wie du. Dir hat man auch zwei Menschen genommen, die bei dir sein sollten. Du kannst dich nicht einmal an sie erinnern, und doch suchst du nach ihnen. Weil sie dein Eigen sind, dein Blut, dein Fleisch. Weil sie du selbst sind. Deine Familie.«
Minas Wimpern flatterten, aber Rosas Blick ließ sie nicht los.
»Du willst sie zu dir zurückholen. Wir … wir haben Zinni
zurückgeholt. Nach einer Weile, einer endlos langen Weile. Zu lang für seine Eltern. Zu viel Zeit für kalte Verzweiflung, für Elend, für Irrsinn. Zu viel Zeit für Tod. Aglaia tanzt nicht mehr auf den Wiesen. Hyazinth singt nicht mehr unter den Bäumen. Aber Zinni ist bei uns, und er lacht und spielt und weiß kaum noch etwas von weißen Betten und Einsamkeit. Und wenn noch einmal irgendjemand, der Doktor oder sonst ein wohlmeinender,
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