Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
Vom Netzwerk:
glatte, junge Rinde legte und hinaufsah, kam ihr nichts natürlicher vor, als dass sie nach oben klettern und über die Mauer sehen sollte. Der Baum schien es ihr leichtmachen zu wollen, soweit sie es erkennen konnte. Mehrere breite Äste hatten sich auf die Mauerkrone gelegt, nur weiter unten am Stamm fehlten die Äste. Alles, was sie ertastete, waren dünne Triebe und schwache Zweige. Vielleicht war es am Fuß der Mauer zu dunkel.

    Sie drehte sich zu Rosa um, zeigte hinauf.
    »Bist du dir sicher, dass du auch wieder herunterkommst?«
    Mina nickte, obwohl sie es nicht war, obwohl sie nichts weniger wusste, als wie man von einem hohen Baum sicher wieder herunterstieg. Sie konnte sich nicht erinnern, überhaupt schon einmal in ihrem Leben geklettert zu sein. Es war etwas so Jungenhaftes, dass man es ihr, bei aller Duldsamkeit, auf dem Gut wohl kaum nachgesehen hätte.
    Trotzdem drückte sie sich jetzt an den Stamm, der sich stark und verlässlich anfühlte gegen ihr klopfendes Herz. Sie streckte die Arme aus, versuchte, den untersten Ast zu erreichen. Hinter ihr lachte Rosa leise.
    »Sei nicht so dumm, Mina, es ist zu hoch. Komm, ich helfe dir.«
    Rosa bückte sich, und erstaunt sah Mina, dass sie die bloßen Hände zu einer Art Tritt verschränkte. Sehr vorsichtig und mit so wenig Gewicht wie möglich stellte Mina einen Fuß in Rosas Hände.
    »Du musst das andere Bein schon auch noch hochziehen, sonst wird es nichts nützen.«
    In der Dunkelheit lief Mina rot an. Sie biss die Zähne zusammen, krallte sich mit den Fingernägeln weit oben in die Rinde und stieß sich vom Boden ab. Einen kurzen Augenblick schwebte sie aufwärts, leicht und frei wie ein Pfeil. Dann stieß sie mit dem Kopf gegen einen Ast und musste beide Arme um den Baumstamm klammern, um nicht wieder herunterzufallen.
    »Gut gemacht«, flüsterte Rosa. Sie schwankte nicht einmal unter Minas Gewicht. »Sieh zu, ob du nach oben kommen kannst. Aber pass auf, dass dich niemand entdeckt!«
    Sie stellte sich dumm an, sie merkte es selbst. Ihre Arme
waren so schwach und so ungeschickt, sie schaffte es nicht, sich auf den untersten Ast zu ziehen. Aber dann gab es einen Schubs von unten, Rosa stemmte sie hoch, und Mina gelang es, beide Arme und ein Bein um den Ast zu schlingen. Sie hing dort, keuchend, Borkenstaub brannte in ihren Augen.
    »Ist alles in Ordnung?«, wisperte Rosa von unten. »Kannst du etwas sehen?«
    Mina rieb sich über das Gesicht und blinzelte. Soweit sie es erkennen konnte, lag die Mauerkrone jetzt dicht unter ihr, ein bleiches Band zwischen den Schatten. Langsam hob sie den Kopf.
    Das Haus war nichts als ein Block aus Dunkelheit. Nirgendwo fiel Licht aus Fenstern; nur einige Stellen konnte Mina ausmachen, an denen die Wand etwas heller war, wie geschlossene Augenlider. Hatte es dort Fenster gegeben, und waren sie nachträglich vermauert worden? Nichts sonst, was sie erkennen konnte, keine Öffnungen, keine Hinweise. Keine Zeichen.
    Sie blickte nach unten. Der Hof schien nicht gepflastert zu sein, er war ein See aus Finsternis, wie die Erde draußen. Wie weit es hinunterging von dort, wo sie lag. Aber wenn man auf dem Ast hinüberkriechen würde auf die andere Seite der Mauer, und wenn man es irgendwie schaffte, vom Ast auf die Steinkante zu gelangen, und wenn man sich dann dort gut festhielt und nach unten hängen ließ …
    Der Gedanke war irrwitzig; irrwitzig und lästig wie eine Stechmücke, und nachdem er einmal aufgetaucht war, ließ er sich nicht wieder abschütteln. Mina hörte Rosas Flüstern, ohne die Worte zu verstehen; ihre Augen hingen an der Dunkelheit dort unten. Was war es, das Rosa jetzt sagte?

    Pipa würde vieles geben, um so mutig zu sein wie du.
    Aber sie war ja gar nicht mutig. Da war nur dies Ziehen in ihr, dort, wo das Medaillon unter dem Kleid saß, dies Zerren, was sie vorwärtstrieb, den Ast entlang, immer weiter, Stück für Stück.
    Pipa könnte nie hineingehen in dieses Haus.
    Ich gehe, dachte Mina, ohne es zu wollen, ich gehe für uns beide, Pipa. Du brauchst keine Angst zu haben, es wird uns nichts tun. Es kann uns nichts tun! Es ist nur ein großes altes Haus mit Menschen darin, oder mit Staub.
    Sie klammerte sich fest, der Ast schwankte unter ihr, und sie drückte den Kopf in den Nacken. Zwischen den blassen Wolken war kein Mondschein zu sehen. Aber er musste dort sein, irgendwo dort oben. Sie starrte hinauf, bis ihr Nacken steif wurde.
    Dann atmete sie tief ein, sah nach unten und schob sich noch weiter

Weitere Kostenlose Bücher