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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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ihr, dass ich hier tun soll? Soll ich euch suchen in den tausend weißen Betten? Aber ihr seid nicht mehr hier, ihr könnt nicht mehr hier sein. Wenn ihr jemals hier wart. Wenn ihr jemals hier wart …
    Ihre Gedanken stockten. Ihr Blick löste sich vom Fenster, wanderte über die Wand, traf auf einen der Schränke. Aktenschränke, wie sie beim Vater standen. Man konnte das Papier fast riechen, Stapel um Stapel hinter den gläsernen Türen. Der Vater schrieb Dinge über das Gut hinein, über die Pächter, die Ernten, die Saat. Listen von allem, was sein war. Mina hatte sie einmal gesehen, die endlosen Kolonnen, aufgeschlagen und für den Augenblick vergessen im Arbeitszimmer.
    Was war es wohl, das ein Waisenhaus sein Eigen nannte?
    Kinder …
    Mina schob das Bündel auf den Rücken.

    Es war furchtbar, was sie tat. Furchtbar, dass sie den nächsten Aktenschrank öffnete, nur weil er nicht verschlossen war. Dass sie die Finger über Aktendeckel gleiten ließ, die ihr nicht gehörten. Dass sie Blätter aufschlug, die nicht für ihre Augen bestimmt waren. In ihrem Kopf durchbohrte Mademoiselle sie mit entsetzten Blicken. Die Mutter wandte sich ab, als könnte sie es nicht ertragen. Mamsell stemmte die Fäuste in die Hüften, und der Vater verzog den mächtigen Schnurrbart, so schief, dass er wie eine Pike spießte. Dieb, flüsterte die Luft ihr zu. Dieb, Dieb, Dieb …
    Sie konnte es kaum ertragen. In den Akten zitterten ihre Finger so sehr, dass sie immer wieder innehalten musste, sonst wären sie ihr wie ein weißer Strom aus den Händen gestürzt und mit lautem Klatschen auf den Boden geschlagen. Und jedes Mal, wenn sie verharrte, versuchte ein Teil von ihr mit aller Macht, ihre Hände aus dem fremden Eigentum zu ziehen.
    Aber der andere Teil war sehr viel stärker. Der Teil, der nur Bruchteile von Augenblicken brauchte, um zu verstehen, dass die Schränke dicht beim Schreibtisch die falsche Wahl waren. Der Teil, der in ihr raunte, dass man nur die neueren Akten in der Nähe behielt. Der Teil, der sie durch den Raum zog, zu den entfernteren Schränken, der sie dazu brachte, das Furchtbare wieder zu begehen. Dieser Teil in ihr fühlte sich an wie Fieber. Und er wusste so schrecklich genau, was er tat.
    Mina durchwühlte die Schränke, so leise, wie das Fieber es zulassen wollte. Die Schrift auf den Aktendeckeln war kaum zu erkennen, und je älter das Papier wurde, desto schwächer wurde sie. Namen flogen an ihr vorbei, Ziffern, Kürzel, die wie Runen aussahen. Aber sie fand nicht, was sie suchte.

    Immer schneller blätterte sie, schnitt sich den Daumen an den Papierkanten, fing das Blut im Mund auf, damit es keine Flecken hinterließ. Salzig war es und heiß. Hier ein Stapel und dort noch ein neuer, Akten mit weichen Deckeln und Akten mit harten, Dutzende, Hunderte.
    Verzweiflung stieg in ihr auf, würgte sie im Hals. Es war unmöglich, dass sie sie fand in diesem Meer aus Papier und Tinte. Da musste eine Ordnung sein, eine Reihenfolge; aber sie verstand die Kürzel nicht, und Jahreszahlen konnte sie nicht entdecken. War es vielleicht immer noch der falsche Schrank? Steckten noch ältere Akten in diesem dort drüben, oder hinten an der anderen Wand?
    Mit fliegenden Händen zog sie Papiere heraus, blätterte flüchtig, schob sie wieder zurück, so ordentlich wie möglich. Jede Bewegung zerriss die Stille. Immer wieder lauschte sie mit angehaltenem Atem nach unten; immer wieder schenkte das andauernde Schweigen ihr neue Minuten. Sie bückte sich tiefer, ging in die Hocke. Fing an, die unteren Fächer zu durchwühlen. Das Medaillon rutschte ihr aus dem Kleid, fiel auf eine der Akten, die sie in den Händen hielt. Es gab einen leisen, dumpfen Laut. Einen Moment blieb Mina still sitzen.
    Der Laut wiederholte sich. Einmal, und noch einmal. Dann schneller hintereinander. Wurde lauter.
    Minas Finger erstarrten.
    Es kam von draußen.
    Sie packte die Akte, die sie gehalten hatte, ohne darüber nachzudenken, schob die anderen zurück, schloss lautlos die Tür und schlich geduckt zu den Fenstern hinüber. Drückte sich am Schreibtisch entlang, schmiegte sich an die
Wand daneben. Schob langsam, ganz langsam, den Kopf ein wenig vor, so dass sie hinaussehen konnte.
    Die dumpfen Laute verwandelten sich in Hufschlag. Mina erkannte es, nur einen Augenblick, bevor sie die Kutsche sah, die die Straße entlangrollte, auf das Tor zu, auf Mina zu. Ein einzelnes Pferd war davorgespannt, es warf den Kopf hin und her, tänzelte im Traben,

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