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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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zusehen, dass wir hier herunterkommen! Du hast das ganze Haus aufgeweckt, glaube ich!«
    Nackte, lange Beine schwangen sich vor Mina über den Ast, glitten nach unten, an ihrem Gesicht vorbei, den Stamm entlang. Der Stoff wischte hinterher. Füße prallten dumpf
auf die Erde. Von der anderen Seite der Mauer sah Rosa zu Mina auf.
    »Komm, jetzt du. Beeil dich, Mina!«
    Während Mina mit zitternden Knien und starr vor Staunen den Eichenstamm hinunterrutschte, zog Rosa hastig ihren Rock wieder an.
    Irgendwo bellte ein Hund.
    Mina erschauerte. Blindlings lief sie los, zum verborgenen Weg, und Zweige, die im Mondlicht lange Fingerknochen waren, zerrten an ihren Haaren. Sie hörte Rosa hinter sich, das Trommeln ihrer Fußsohlen, das Rauschen ihres Rockes - ihr Rock, gütiger Himmel! Sie hatte tatsächlich ihren Rock ausgezogen! -, zweistimmiges Keuchen in der Luft, viel zu laut, und darunter, immer wieder, das heisere Bellen. Es hetzte Mina vorwärts.
    Der Mond schien weiter grell und schenkte ihnen keine dunklen Stellen, keine Winkel, in denen sie sich hätten verbergen können. Ihre Schatten warf er lang und scharf über die Sträucher, für jeden sichtbar, und sie konnten ihnen nicht davonlaufen, so sehr sie auch rannten. Der Weg, der schmale, verfilzte, struppige Weg, schien mit einem Mal breit und offen wie eine Chaussee am Mittag. Kein Versteck. Keine Hilfe.
    Das Hundebellen trieb sie weiter an. Sie warfen sich ins Dickicht, waren schon hindurch, schlugen sich im Fallen die Hände an kalten Pflastersteinen auf. Mitten auf der Straße umzingelte das Mondlicht sie von überallher.
    Das Bellen wurde lauter.
    Gedanken jagten wirr wie Wolkenfetzen vor dem Sturm durch Minas Kopf. Ihr Blick blieb an dem Stein hängen, dem Felsbrocken, ein verlorener Trollzahn im niedrigen Gesträuch.
Der Mondzinken darauf war nicht verblasst, im Gegenteil. Er schien zu leuchten wie mit bläulichem Feuer gezeichnet. Mina starrte ihn an.
    Erst der Schmerz im Handballen brachte sie zur Besinnung. Sie packte Rosa am Arm, schüttelte den Kopf, so deutlich sie konnte, zog sie zurück zum Gebüsch.
    »Zurück?«, keuchte Rosa, »Mina, bist du verrückt?«
    Das Wort jagte eisige Stacheln durch Minas Bauch, und mondweiße Brillengläser blitzten vor ihr auf. Aber sie zog Rosa tiefer zwischen die Sträucher. Sie durften nicht auf der Straße bleiben.
    Auf der Straße erwartete man sie.
    Deshalb war niemand aus der Hintertür gestürmt, deshalb rührte sich nichts auf dem verborgenen Weg außer ihren zitternden Schatten, die zwischen die Dornen krochen. Man erwartete sie vorne.
    Mina duckte sich neben Rosa und saugte an ihrem brennenden Handballen. Nur langsam wurde ihr klar, was das bedeutete. Sie sah den Rücken des Doktors vor sich, in den langen Minuten, bevor er sich zu ihr umgedreht hatte; hörte ihn im Treppenhaus nach ihr rufen. Ich wusste, dass du hier sein würdest …
    Erst jetzt fiel ihr auf, dass er sie geduzt hatte, wie früher, als unwissendes Kind. Kein höfliches »Fräulein Wilhelmina« mehr; keine Formen, keine Regeln. Keine Regeln … Er hatte sie erwartet. Auch wenn es unmöglich war. Er hatte dort gestanden und in die Nacht hinausgesehen, und sie war es gewesen, nach der er Ausschau gehalten hatte.
    Aber er hatte den Blick auf die falsche Stelle gerichtet. Auch jetzt noch.

    Der alte Weg hatte sie gerettet. Für einen einzigen Augenblick. Einen Augenblick, der ausreichen musste.
    Mina wischte alle Gedanken über das Wie und Warum aus ihrem Kopf, zerrte Rosa hinter sich her tiefer in das Gesträuch. Sie fühlte ihre Lider flattern, als sie sich zwang, die Augen zu schließen.
    »Mina«, flüsterte Rosa heiser, »was machst du? Wir müssen weiter, sie finden uns hier!«
    Mina nickte nur; und vielleicht verstand Rosa sie, denn sie verstummte. Schweigend rief Mina nach dem Wald, die Blätter, das Rauschen alle paar Augenblicke zerrissen vom Hundegekläff. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich in der Anstrengung.
    Als der Wald kam, endlich, in einer Minute, die sich wie die letzte anfühlte, bevor Mina ohnmächtig wurde, war er nicht mehr als ein Schemen unter dem Mond, und sie wusste es, bevor sie die Augen wieder öffnete. Mit dem ersten Blick fand sie ihn nicht; das Gebüsch lag um sie her wie zuvor, und die Enttäuschung sackte ihr als Eisklumpen in den Magen. Aber Rosa bewegte sich neben ihr, zupfte an ihrem Ärmel.
    »Dort«, sagte sie leise. »Dort drüben. Mina, wie hast du das geschafft?«
    Kaum, dachte Mina, als sie die Stelle

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