Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Schatten auf den Boden warfen. Vielleicht waren es die schlanken Formen von Tintenfass und Löscher, die sie erst nach einer Weile entdeckte, auf der Tischplatte ganz bis an die Wand zwischen den Fenstern gerückt; genau in der Mitte. Vielleicht war es auch nur die Luft, die sie einatmete,
die sauber roch und ein wenig nach Putzmittel, ohne einen Hauch von Pfeifentabak oder Zigarrenrauch. Erst als Mina sich zur Seite wandte, sah sie die steifen, geisterweißen Falten der Schürze, die an einem langen Haken neben der Tür hing.
Mina schlang die Arme um sich, als sie daran dachte, dass es die graue, dürre Frau sein musste, die hier tagsüber saß, an diesem Tisch vor den Fenstern; Eintragungen mit einer Feder machte, so scharf und spitz wie ihr Gesicht. Es fiel ihr schwer, darauf zuzugehen, als sie endlich sicher war, dass niemand außer ihr sich in dem Raum befand. Vielleicht würde sie da unten spüren, dass jemand ihr Bureau betrat … Aber Mina musste endlich hinaussehen, und wenn es nur war, um sich zu vergewissern, dass draußen noch etwas anderes war, Bäume, Himmel und Nacht; dass nicht nur dieses stille Haus noch existierte, und sie darin. Die kalte, staublose Luft schmeckte allmählich wie Eis auf ihrer Zunge.
Sie schlich über den Boden, zwei, drei Teppiche aus so dünnem, billigem Gewebe, dass es sich fast härter anfühlte als das nackte Holz. Stellte sich so nah an den Schreibtisch, wie sie es wagte, achtete sorgsam darauf, den Stuhl nicht zu berühren. Sie konnte sich zu gut vorstellen, wie seine zierlichen Beine laut kratzend über den Boden schabten, wegen eines einzigen unachtsamen Moments. Sogar den Rock zog sie enger um sich, damit er ihn nicht versehentlich streifte, und den Arm schlang sie um das Bündel vor der Brust, damit die Spieluhr nicht klirrte, das Buch nicht herausflatterte, der goldene Schlüssel nicht mit dumpfem Pochen gegen die Tischkante schlug. Erst dann lehnte sie sich vor, über die glänzende Platte, und sah aus einem der Fenster.
Es war nicht hell draußen, aber hell genug, dass sie mit ein, zwei Blicken alles verstand, was ihr vorher so rätselhaft gewesen war. Die Mauer zog sich durch die Nacht, so nah am Haus, dass nur ein kleiner Platz übrig blieb, kaum größer als eine Lichtung im Wald, aber grau und massiv und ohne jedes Leben. Und dort, geradezu, saß in der Mauer ein Tor, breiter und höher als der verschlossene Eingang beim alten Weg. Die beiden Flügel standen offen, trotz der späten Stunde, und dahinter glänzten die Pflastersteine der Straße matt unter den Wolken. Mina schauderte bei dem Gedanken, sie wären nicht zurückgegangen und über den versteckten Weg; wären hier die Straße entlanggekommen, genau auf dieses Tor zu, ohne jeden Schutz.
Wie riesenhaft es aufragte. Die beiden Steinsäulen, die die Angeln hielten, warfen so tiefe Schatten, dass sie wie Gräben aussahen. Der eine, linke, schien sogar noch etwas tiefer zu sein. War er nicht auch breiter, ein klein wenig, wenn man genau hinsah? Er passte nicht recht, dieser Hauch von Unausgewogenheit, nicht zu dem Haus, nicht zu dem Bord zwischen den Fenstern, wo die schwarzen, kantigen Formen der Bücher exakt nach der Größe geordnet standen. Aber vielleicht lag es nur am Mond hinter den Wolken, der schräg stand und die Schatten verzerrte.
Mina sah, was sie hatte sehen wollen; aber sie fühlte sich kaum erleichtert. Sollte man sie entdecken, wäre dies wohl der letzte Weg, auf dem sie fliehen konnte. So offen der Blick vom Haus in den eingezwängten Hof, auf das Tor, die Straße dahinter. Sie seufzte, tonlos und enttäuscht.
Wozu war sie hergekommen? Nur, um dazustehen und verzweifelt nach einem Weg zu suchen, wie sie wieder herauskam? Hatte der Mond sie hierhergeführt, um ihr zu
zeigen, wie viel besser es ihr zu Hause erging; viel besser, als den armen verlassenen Wesen in ihren weißen Betten? Hieß es nicht mehr als: Geh zurück, Mina, bescheide dich mit dem, was du hast?
Der Gedanke an das Gutshaus war so fremd und kalt. Mina lehnte sich noch weiter nach vorn, versuchte, das bleiche runde Sternengesicht hinter den Wolken zu finden. Ist es das wirklich, was du mir sagen willst?, dachte sie. Aber sie fand ihn nicht, den Mond, und die Nacht sprach nicht zu ihr.
Sie drückte das Bündel fester an sich, und eine Kante, das Buch vielleicht, presste ihr das Medaillon in die kleine Kuhle auf ihrer Brust, dorthin, wo die Haut im Herzschlag bebte. Was ist mit euch? , fragte sie schweigend. Was wollt
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