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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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nicht mehr die Schürze. Sie kroch weiter, fühlte die Türschwelle hart unter den Knien. Knackte sie? Nein, das Holz schwieg, wie ein Mitverschwörer. Aber sie wusste, dass man ihm nicht trauen konnte.

    Zwei Drittel Vorhang. Drei Viertel. Mina rutschte so leise vorwärts, nicht einmal sie hörte das Flüstern ihres Kleides.
    Vier Fünftel.
    Dann drehte der Mann sich um.
    Die Wolkendecke vor dem Fenster riss auf. Mondlicht floss in den Raum, grellweiß und kalt. Erhellte jeden Winkel, jede Falte. Brach auf zwei kleinen, runden Gläsern in tausend gleißende Stücke. Jedes Einzelne traf Mina ins Mark.
     
    Sie hatte keine Luft, um stumm zu schreien. Ihr Körper fuhr von selbst in die Höhe, warf sich herum, durch den Vorhang, über die Schwelle. Sie hörte die Stimme des Doktors hinter sich, und jede Silbe gab ihr einen neuen Stoß, der sie vorantrieb.
    »Wilhelmina, Wilhelmina! Komm zurück, Mädchen, sei nicht dumm!«
    Die Worte gingen unter in einem grellen Wiehern von draußen.
    Sie flog die Treppe hinunter, am zweiten Stock vorbei, wo das Klick, Klick schnell näher kam. Eine Frauenstimme rief, Mina stolperte, nahm, zwei, drei Stufen auf einmal, schlug mit dem Knie auf, rannte weiter. Den Weg zurück, den sie gekommen war, ohne nachzudenken. Über die nächste Treppe, die Stimme des Doktors immer noch über ihr, sie hallte jetzt durch das ganze Treppenhaus, voll, klar und mächtig.
    »Wilhelmina, mein Kind! Sei nicht so töricht! Ich will dir helfen! Es ist gut, dass du hier bist. Ich wusste, dass du hier sein würdest. Wilhelmina!«

    Sie schüttelte wild den Kopf, während sie rannte und hastete. Fiel die letzte Treppe halb herunter, schlug sich den verletzten Wangenknochen neu auf, fühlte das Blut heiß auf ihrer Wange. Da war der Flur mit den schwarzen und weißen Fliesen, sie glitt beinahe aus, so schnell flog sie ihn hinab. Sie warf sich auf die Hintertür zu, riss an der Klinke, presste sich am ächzenden Holz vorbei ins Freie. Im Mondlicht strahlte die Mauer ihr höhnisch entgegen. Das schrille Wiehern, von vorne, aus dem Hof, zersprengte die Nacht.
    Wohin, wohin? Oh gütiger Himmel, wohin?!
     
    Die Blätter der Eiche tupften Schattenflecken auf die Mauer. Zu hoch, viel zu hoch! Obwohl die Schatten beim zweiten Wimpernschlag länger aussahen als vorher, näher. Mina fuhr sich verzweifelt über die Augen. Schwarze Flecken tanzten auf und ab, die nicht zur Eiche gehörten.
    »Hierher, Mina, hierher!«
    War es Rosa auf der anderen Mauerseite, die nach ihr rief? Ich will es ja, dachte Mina, ich will es ja, so sehr, aber es ist zu hoch für mich, Rosa, viel zu hoch …
    »Hierher, komm doch, Mina!«
    Etwas rührte sich auf der mondhellen Mauer, die Schatten der Eiche bewegten sich wirklich. Da war einer, der sich nach unten streckte, breiter und weiter wurde, als ein Ast je sein konnte. Glänzte er nicht auch schwach wie weicher Stoff? Und war das ein Gesicht dort oben zwischen den Blättern, das sich so ruckhaft hin und her bewegte, wie um etwas hinter den Zweigen zu erkennen?
    »Mina!«, schrie Rosa oben in der Eiche. »Mina, spring! Spring hoch und halt dich fest!«

    Mina rannte auf die Mauer zu. Sie wusste, jeden Moment würde die Tür hinter ihr wieder aufgerissen werden, würden Hände sie packen, Arme sie festhalten. Aber ihre Füße klatschten auf den Boden, sie konnte noch diesen Schritt schaffen, und diesen Schritt, und wenn sie jetzt, jetzt so hoch sprang, wie sie nur konnte, und sich dabei nach vorne warf, auf diesen großen schwarzen Schatten zu.
    Stoff jammerte und schrie, als Mina zupackte. Einen entsetzlichen Moment lang baumelte sie vor der Mauer. Sie konnte nicht mehr tun, als sich festzukrallen. Dann ruckte es unter ihrer Hand, riss in ihrer Schulter; sie wurde nach oben gezogen, einen knirschenden Zentimeter nach dem anderen. Immer noch war die Tür im Haus nicht aufgeflogen.
    »Ich habe dich gleich, keine Angst, halt nur still.«
    Mina blickte nach oben. Rosas Gesicht schien über ihr zu schweben. Woher sie die Kraft nahm, um ihm zuzunicken, wusste sie nicht.
    Sie fühlte die schartige Mauerkrone gegen ihren Ellenbogen schaben. So gut sie konnte, stützte Mina sich ab. Ein neuer kräftiger Ruck, und mit einem Mal hing sie quer über dem Ast, der ihr Eintritt verschafft hatte, und Rosa war ihr so nah, dass sie den Schweiß sehen konnte, der auf ihrer Stirn glänzte.
    Mina ließ den Stoff los. Das war doch nicht möglich …
    »Gut, so ist es gut«, keuchte Rosa, »jetzt lass uns

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