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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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streifte sie die Vorstellung, dass es hinter jeder der vielen Türen so aussah, weiße, regelmäßige Betten eins neben dem anderen, und in jedem ein kleines, blasses Gesicht voller Furcht. Dutzende. Hunderte.
    Rascheln, Klicken. Ihr Schatten ging der Frau voraus. Lang wurde er, immer länger. Dann verschwand er, verschwand sie. Ein paar Atemzüge lang war noch das Klicken zu hören. Als es abbrach, klappte keine Tür.
    Mina wurde übel. Es musste einen Stuhl geben, nur ein kurzes Stück weiter den Flur hinunter; einen Stuhl, auf dem die graue Frau die ganze Zeit über gesessen haben musste. Die ganze Zeit über, während Mina dumm und blind versuchte, sich zu dem Fenster zu stehlen … Eine Biegung musste sie gerettet haben, ein Knick im Flur, ein noch so leichter Winkel. Nicht mehr als das.
    Es dauerte, bis Mina den Mut aufbrachte, sich am Geländer nach oben zu ziehen. Sie richtete sich nicht ganz auf, blieb so gebückt wie möglich. Setzte die Füße schneckenlangsam auf. Und sie machten auch Geräusche wie die Schnecken, dieses alberne Schmatzen. Es kam ihr überlaut vor.
    Aber im Flur rührte sich nichts mehr. Sie stieg höher, Stufe für Stufe; die Stille des Hauses umgab sie, als wäre nichts geschehen. Lautlos musste sie dort unten sitzen, ohne eine Regung. Wie die Spinne unter dem Teppichrand, die darauf wartet, dass das Licht gelöscht wird.
    Im nächsten Flur war die Treppe zu Ende. Und hier gab es wieder Dielen. Lange Dielen, aus ganzen Baumstämmen geschnitten. Knarrende Dielen, die genau über dem unteren Flur verliefen.

    Ihr gegenüber war keine Tür, oder doch, sie war vielleicht da, aber ein Vorhang hing davor, aus dunklem, faltigem Stoff. Wenn sie es bis auf die Schwelle schaffen könnte, die unter diesem Vorhang liegen musste …
    Eine lange Zeit stand Mina auf der letzten Treppenstufe.
    Dann schloss sie die Augen.
     
    Schwerelos, dachte sie, so fest sie konnte; so fest, wie sie an die tanzenden Damen und den Ballsaal gedacht hatte, allein auf dem Dachboden, in einer anderen Welt. Schwerelos, ich bin schwerelos. Man hört keinen Laut, wenn ich jetzt - jetzt - den ersten Schritt auf die Dielen mache; kein Knarren, kein Seufzen. Natürlich nicht, denn ich wiege ja nichts. Ich berühre es zwar, das Holz - da, jetzt wieder - aber nur so sacht wie ein Sommerwindhauch, der durch die schlafenden Flure treibt. Ein Sommerwind, das bin ich, ganz ohne Gewicht. Leicht und lautlos.
    Ich darf es nur nicht vergessen.
     
    Die Türschwelle war so schmal, dass Mina fast das Gleichgewicht verlor, als sie endlich den Fuß daraufsetzte. Sie riss die Augen auf, klammerte sich an dem Vorhang fest. Stoff ächzte und verdeckte ihre lauten Atemzüge; die langen Falten wanden sich unter ihrem Griff. Dahinter war kein Widerstand zu spüren.
    Von unten hörte Mina nichts, kein Absatzklicken, kein Schürzenrascheln, obwohl sie lange lauschte. Es musste ihr wirklich gelungen sein, lautlos über die Dielen zu kommen. Auch wenn es kaum vorstellbar war. Kaum; das war wohl das entscheidende Wort …
    Irgendwann gab sie sich einen Stoß und zog den Vorhang
vorsichtig auf. Es war kein dunkles Türblatt dahinter, sondern trübe, graue Luft, und blankes Glas schimmerte ihr entgegen. In der Wand gegenüber gab es zwei Fenster, dicht nebeneinander.
    Ein schwärzlicher Balken schien sie miteinander zu verbinden; Mina brauchte einen Moment, bis sie erkannte, dass es ein Bücherbord sein musste. Darunter ein Tisch, so nah an die Fenster gerückt, als presse er die breite Stirn dagegen. Seine leere Platte spiegelte ganz schwach die Wolken, die draußen über dem Himmel lagen.
    Mina ging nicht gleich in das Zimmer hinein, obwohl sie es sich wünschte. Selbst wenn es nur ein Vorhang war, den sie hinter sich würde fallen lassen können, er schien doch unendlich viel mehr Schutz zu bieten vor dem drohenden Klicken unten auf dem Flur. Aber sie zwang sich dazu, stehen zu bleiben und den Raum so genau mit Augen und Ohren zu erforschen, wie das trübe Licht es zuließ.
    Es war wohl ein Bureau, ein Schreibzimmer. Hohe, schmale Schränke standen rechts und links an den Wänden, mit Glastüren, hinter denen Stoff gespannt war. Einen solchen Schrank hatte auch der Vater zu Hause, und er verwahrte seine Akten darin.
    Trotzdem fühlte dieses Zimmer sich nicht männlich an. Mina wusste nicht genau, woran es lag. Vielleicht war es der Stuhl vor dem Schreibtisch, der zwar eine strenge, gerade Lehne hatte, aber zierliche Beine, die ganz sacht geschwungene

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