Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Nacht. Einzelne Wörter dazwischen, von denen sie nicht einmal wusste, aus welcher Sprache sie stammten.
Vater Tr.
Mutter unbek.
Schw. Milieuschäden.
Tobsüchtg.
Fallsüchtg.
Pavor noc.
Einf. Seelenstörg.
Sie blätterte, Seite um Seite, wie aus Pflichtgefühl; starrte auf die Zeichen, blätterte weiter. Die Botschaften hinter dem Gekritzel enthüllten sich ihr nicht. Keine Hilfe fand sich zwischen den Aktendeckeln.
Der Stempel am Ende der vorletzten Akte - Hinrichsen, Sönke - war nach den endlosen Krakeln und Kürzeln so klar auf das Papier gedrückt, dass es sie schockierte. Nicht eine Linie war verwischt, kein Buchstabe verrutscht. Er bedeckte beinahe die ganze Seitenbreite.
Am 18. Dezember 1902 überwiesen.
1902, dachte sie flüchtig, Weihnachten, vor elf Jahren. Da war sie selbst nicht älter als drei gewesen. Der Vater hatte ihr die erste richtige Puppe geschenkt, mit Stoffgesicht und Kleidern zum An- und Ausziehen. Zu Hause, auf dem Gut. Und im Waisenhaus war zur gleichen Zeit ein anderes Kind »überwiesen« worden.
»Überwiesen«, was für ein glattes Wort. Was bedeutete es?
Sie schlug die Akte zu, griff nach der Letzten, die darunterlag; sie würde nicht mehr enthalten als Hunderte weiterer Kürzel, die sie nicht verstand und die ihr nicht halfen.
Aber zugleich mit dem harten Aktendeckel packte sie etwas Dünneres, Nachgiebigeres. Ein schmaler Bogen Papier stak zwischen den beiden letzten Akten, schief, wie unabsichtlich. Sie zog ihn heraus; ein einzelner Absatz, in einer nadelfeinen Frauenhandschrift. Nicht mehr als eine Notiz.
Behördliche Meldepflicht für Anzeichen von Imbezilität und Demenz beachten! Gewöhnliche Auffanginstitution: Provinziale Heil- und Pflegeanstalt.
Kontakt herstellen zu Dr. R.: bei Verdacht auf schwere Seelenstörung mit bes. ausgeprägtem halluzinatorischen Element. Nicht älter als 15 J.
Mina las den Absatz zwei- oder dreimal, ohne ihn zu verstehen. Sie wollte das Stück Papier schon wieder zwischen die Akten zurückschieben, als sie sah, dass auch die Rückseite beschrieben war.
Eine Art Liste, wie so viele in den Akten; sehr kurz nur. Mit einem scharfen schwarzen Stempel darunter. Er bedeckte das Blatt fast in der ganzen Breite. Aber nicht er, sondern etwas anderes sprang sie vom Papier aus an.
Ein Wort. Ein Name.
Ranzau.
Mina hielt inne, und ihr Magen verkrampfte sich. Das Papier begann zu zittern. So sehr, dass sie es kaum lesen konnte. Sie musste ihre Hände schließlich halb zwischen ihren Knien einzwängen, damit sie es ruhig genug hielten. Ruhig genug, um zu sehen, dass die Tinte der Worte am Anfang der Liste blass und grau war, während sie nach unten zu immer kräftiger und frischer wurde. Ruhig genug, um zu lesen:
Ranzau,J.
09. Januar 1902
Schw. Seelenstörg.
Ranzau, H.
09. Januar 1902
Schw. Seelenstörg.
Hinrichsen, S.
18. Dezember 1902
Schw. Seelenstörg.
Stockfleet, M.
15. Juli 1904
Schw. Seelenstörg.
Petersen, H.
30. November 1907
Schw. Seelenstörg.
Lorenzen, P.
06. März 1910
Schw. Seelenstörg.
Und darunter breit der Stempel:
Private Nervenpflegeanstalt zu Schleswig
Medizinalrat Dr. med. Rädin
Direktor
Zuerst verstand sie nicht, was sie da las. Schaute auf das Papier, die Buchstaben, als müsste sich ihr Sinn erst noch erschließen. Aber da gab es keine verborgene Bedeutung.
Es war eine Quittung. Eine Quittung für Kinder.
Der Stempel sprach mit klarer, unüberhörbarer Stimme. Als Mina sie endlich wahrnahm, sackten ihre Schultern zusammen, und die Akte fiel ihr aus den Händen.
Oh, dachte sie hilflos. Nicht mehr als das. Für eine lange Zeit.
Weshalb sie aufstand, irgendwann, wusste sie nicht. Ihre Hände schoben die Akten in das Bündel und schnürten es zu; ihre Knie beugten und streckten sich, ihr Körper kam in die Höhe, steif wie eine Marionette. Sie ging ein paar Schritte, und da sie nicht umfiel, noch ein paar mehr. Immer weiter.
Sie wusste nun, wohin sie gehen musste; und das war das Schrecklichste. Sie wusste es, und obwohl ihr Innerstes gefror, wenn sie an diesen Ort dachte, bewegten ihre Glieder sich widerstandslos weiter vorwärts. Selbst als ihr langsam klarwurde, dass sie zwar den Ort kannte, nicht aber den Weg dorthin, hielt ihr Körper nicht an. Sie hatte keine andere Wahl, als weiterzugehen. Keine Wahl.
Meine armen Kleinen … das Beste … für Wilhelmina …,
echoten Stimmen in ihr, von weit, weit her. Vom Anfang des Wegs. Wir mussten Wilhelmina schützen …
Ja, dachte sie,
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