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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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gefunden hatte. Kaum, nur gerade eben so, Rosa, und er ist auch kaum da. Nur dieser Schatten dort zwischen zwei jungen Bäumen, die eben noch nicht in den Büschen standen; dieser Bogen unter ihren Zweigen, der wie ein Tor aus Dunkelheit aussieht. Mehr nicht, und selbst das kann ich kaum festhalten. Wir müssen uns beeilen. Hunde haben gute Nasen. Sie werden nicht mehr lange an der falschen Stelle suchen.

    Sie gab Rosa einen kleinen Stoß, schubste sie fast auf den dunklen Baumbogen zu. Hintereinander krochen sie durch das Gebüsch. Mina sah Rosa in den Schatten eintauchen, den Kopf zuerst, dann die Schultern, den Rücken. Er verschluckte sie, wie Schatten es tun; nur, dass dieser nicht dort war, wo er zu sein schien, und dass er sie mit sich nehmen würde, wenn er wieder verschwand. Die Umrisse der Bäumchen waren unscharf, verschwommen trotz des hellen Mondlichts. Und hinter Minas Stirn waberte Schwindel wie Dunst hin und her.
    Rosas Füße verschwanden. Mina atmete ein. Sie richtete sich vorsichtig ein Stück weit auf, sah über die Büsche zur Straße hin. Das Bellen war geblieben, aber noch regte sich nichts in ihrer Nähe. Sie hatten sie noch nicht entdeckt.
    Da war der Stein, groß selbst aus der Entfernung, und der Zinken leuchtete kalt zu ihr herüber. Nein, er verblasste nicht, wie das Sonnenzeichen verblasst war, das Karol ihr in die Luft gemalt hatte, vor unendlich langer Zeit. Sie sah ihn jetzt nur noch deutlicher als zuvor. Er blieb, und es gab nur eines, was das bedeuten konnte.
    Mina tat schnell, was sie tun musste; das erste kleine Zögern würde ihren Willen brechen. Sie presste die Augen zu, ballte die freie Hand zur Faust. Verjagte den Wald mit all der Kraft, die sie noch in sich finden konnte. Es fühlte sich an, als triebe sie sich selbst einen Nagel in die Brust.
    Sie sah nicht nach, ob es ihr gelungen war; konnte es nicht über sich bringen, den Kopf zu heben und auf die leere Nacht zu starren, wo eben noch das Tor in den grünen Schutz gewartet hatte. Mit dem nächsten Hundebellen schob sie sich durch das Gebüsch, zurück auf den verborgenen Weg, die gestohlenen Akten gegen den Bauch gedrückt.

    Hufschläge halltenauf den Pflastersteinen der Straße, wurden lauter, rasend schnell, wie tausend winzige Trommeln. Sie konnte nicht anders, hob zitternd den Kopf eine Haaresbreite über das Gebüsch. Ein einzelner Schemen wischte an dem großen Felsen vorbei, eine Mähne flatterte wild gegen den Mond. Kein Umriss eines Reiters oder einer Kutsche.
    Verwirrt starrte sie dem Pferd hinterher. Hatte sie es wirklich gesehen?
    Dann rannte sie los, über die mondhellen Wiesen, fort vom Waisenhaus, fort von Rosa, ohne sich umzudrehen.

    Es tut mir leid, dachte Mina später oft. Oh, es tut mir so leid. Verzeih mir, Rosa Luluya, dass ich dich alleingelassen habe mit Sorge und Verzweiflung. Aber wie hätte ich erklären sollen? Und entschuldige nur, Mina Gutshaustochter, dass du nicht in die grüne Sicherheit fliehen durftest. Der Mond hat dich nicht gehen lassen. Der Mond, der Verräter. Der den Weg noch weiter führen will. Weiter; irgendwohin. Und mir bleibt nichts, als zu folgen. Ganz allein.
    Ganz allein.
    Es war nicht die Hölle, nachts auf den einsamen Wiesen und Feldern. Ewiger Schmerz und Verdammnis wären leichter zu ertragen gewesen als dies kalte Grausen, das sie mit jedem Luftholen einatmete. Das Schweigen um sie her war so dicht, so vollkommen, sie bewegte sich darin wie ein
Stein, der ins Wasser fällt. Jeder Schritt zwischen trockenen Gräsern hallte ins Unendliche weiter. So hörbar, so schutzlos. Und der Mond strahlte sie weiter an, als stünde sie auf einer Bühne, vor einem schweigenden Publikum aus Schatten und Schemen.
    Sie rannte; sie trabte; sie ging, und schließlich schleppte sie sich nur noch weiter, weil es das Einzige war, was sie tun konnte. Erst, als der Morgen ihr über die halbgeschlossenen Lider strich, versteckte sie sich notdürftig irgendwo unter einer Hecke. Die Akten aus dem Waisenhaus schob sie unter sich.
    Sie waren das Erste, was sie fühlte, viel später am Tag, als sie wieder zu sich kam; das steife Papier, das seine Kanten in ihre weiche Haut drückte. Mit müde verschwollenen Augen und trockenem Mund setzte sie sich auf, blätterte durch den schmalen Stapel. Vier Akten waren es, Namen auf den Deckeln, die ihr nichts sagten, Hansen, Christiansen, Lütt; und die seltsamen Kürzel und Kritzeleien bedeckten jede einzelne Seite, so unlesbar im Tageslicht wie in der

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