Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
und die bitteren Tränen versengten sie von innen. Ja, ich weiß.
Und das Schuldgefühl, das sich in ihr verborgen hatte, den ganzen weiten Weg über, versteckt unter Angst, versteckt unter Wundern, wog so schwer wie ein Stein.
Ich weiß. So hat es angefangen. Und deshalb … keine Wahl.
Für Ranzau,J. Für Ranzau, H. Ganz gleich, zu welchem Ende. Ich bin es ihnen schuldig.
Und sie legte über dem Kleid die Hand auf das Medaillon.
Was folgte, waren Stunden, Tage vielleicht, die um sie her versanken, ohne sie zu berühren. Sie spürte keinen Hunger, keinen Durst; keine Hitze und keine Kälte. Manchmal war es hell, dann ging sie ein wenig schneller. Manchmal war es dunkel, dann strauchelte und taumelte sie. Licht und Schatten, und ab und zu der Wind, der ihr die Haare aus der Stirn strich und in den Halmen flüsterte; mehr nahm sie nicht wahr.
Sie blieb in der Nähe der Straße, aber von den Dörfern hielt sie sich fern. Selbst wenn sie nach dem Weg hätte fragen können - wer hätte einem Lumpenmädchen geantwortet? Und die Kinder, denen sie einmal begegnete, als sie zu nah an ein Dorf geraten war, liefen schreiend vor ihrem starren Gesicht davon.
Das Land trug sie weiter und weiter.
Manchmal flüsterten Melodien in ihrem Kopf; das Taterlied, das Rosa ihr beigebracht hatte, summte sich selbst auf ihren Lippen, und sie wusste, dass sie sich tonlos dazu bewegten.
Sie konnte es nicht verhindern. Obwohl sie wusste, wie es aussehen musste, brachte sie die Kraft nicht auf. Vielleicht war es ihr auch einerlei. Das Einzige, was zählte, war der Ort; jener Ort bei der Stadt Schleswig, an dem die Suche enden musste, so oder so. Wenn nur das Ende endlich käme …
Aber das tat es nicht. Mina irrte umher, ohne Ziel, ohne Richtung, durch Felder, Wiesen und Knicks, kleine Wäldchen, die ihr mit ihrem Blätterspiel das Herz brachen, über Hügel und durch Gebüsch. War das Schleswig, die hohen Häuser hinter jener Biegung? Oder der spitze Kirchturm dort drüben? Oder war es wieder nur ein Dorf, das Hundertste, Tausendste, das sich mit großen Häusern als Stadt verkleidet hatte? Sie folgte den Windungen der gepflasterten Straße, auch als sie schon längst nicht mehr gepflastert war. Von Schritt zu Schritt wurde es sinnloser.
Stimmen gesellten sich zu den Melodien in ihrem Schädel; sie hatte keine Kraft, sie abzuwehren. Mamsell, die schimpfte und sie Zigeunerkind nannte. Die Mutter, die weinte, gedämpft, hinter einem Spitzentuch. Lilja, die etwas Tröstendes flüsterte mit ihrem schönen Mund; Mina verstand es nicht, so sehr sie sich auch bemühte.
An dem Tag, an dem sie nicht weiterkonnte, kam eine neue Stimme dazu. Ihre Knie hatten nachgegeben, einfach so, hinter einem der unzähligen Knicks; sie hatte noch das Bündel gehört, wie es dumpf auf den Boden schlug, hatte sich vage über das seltsame Geräusch gewundert. Dann waren Himmel und Erde übereinandergestürzt.
Es war wohl so, dass sie bewusstlos dalag, als die Stimme ihr zuzuwispern begann. Es musste so sein. Weich und tief
war sie, und Mina kannte sie, ohne zu wissen, woher. Die Stimme sprach so freundlich zu ihr, zärtlich fast, wie Finger, die ihr über den Scheitel strichen.
»Mina«, sagte die Stimme sanft, »was machst du denn nur, Mädchen?«
Ich weiß es nicht, antwortete sie in ihrem Kopf. Ich weiß nur, dass ich gehen muss, weitergehen, immer weiter.
Sie versuchte sich aufzurappeln, wieder auf die Füße zu kommen; aber natürlich gelang es ihr nicht. Sie schlief ja, oder war sie doch wach? Weshalb sah sie die Zweige des Knicks über sich wiegen, wenn sie die Augen geschlossen hatte?
»Mina, Mina«, sagte die Stimme. »Was streifst du so allein durch die Felder? So ein nettes, hübsches Mädchen wie du.«
Mina runzelte die Stirn; es fühlte sich an, als bräche die Haut dabei in staubige Falten.
»Komm, Kleine. Ich helfe dir.«
Hände an ihren Schultern. Warm und fest und breit. Etwas Verschwommenes über ihr, ein dunkles Oval, in dem zwei schwarze Edelsteine glitzerten. Mühsam versuchte sie, den Blick auf sie zu konzentrieren.
»So ist es gut«, sagte die Stimme, und sie schien aus dem Oval zu kommen. »Sieh mich an, kleine Mina. Ich helfe dir.«
Sie fühlte sich emporgezogen. Ihr wurde schwindelig.
»Du musst etwas trinken, Mina. Keine Angst, ich halte dich.«
Wasser berührte ihre Lippen und wurde von ihnen aufgesogen, noch bevor auch nur ein Tropfen in ihren Mund rinnen konnte. Erst als mehr davon über ihr Kinn floss,
sprang der
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