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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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man sie mit ein paar Pfennigen hinunter, die die Mamsell sorgsam in Zeitungspapier eingewickelt hatte.
    Dieser war ein Fremder. Klein sah er aus, kleiner als die meisten Männer, die Mina kannte. Ein Schopf schwarzer Haare stand in alle Richtungen von seinem Kopf ab. Die Augenbrauen unter der hohen, bleichen Stirn waren so dunkel wie Starenflügel. Er stand gebeugt, auf die Drehorgel gestützt, als wäre er müde, oder älter, als es von oben aussah. Er sang auch nicht, drehte nur gleichmäßig die Kurbel. Und das Lied, das aus der Drehorgel kam …
    Es war das Lied der Spieluhr.
    Mina starrte in den Hof hinunter. Die dunkle Wolke in ihrem Inneren senkte sich auf sie nieder und erstickte alles unter sich. Alles, bis auf den einen, verzweifelten Gedanken: Ich träume. Ich träume nur, das alles …
    Dann hob der Drehorgelmann plötzlich den Kopf. Ein Blick aus dunklen Augen traf sie; so heftig und unerwartet, dass sie taumelte. Und gleichzeitig mit seinem Blick fuhr
ein Gefühl durch sie hindurch, so wild und mächtig wie der Sturmwind, der über die Felder fegt.
    Es blies die Wolke weg und mit ihr die letzten Gedanken. Es nahm ihr den Atem. Ihre Hände fingen an zu zittern; dann spürte sie, wie sie sich bewegten, ganz von allein, und als sie hinunterschaute, tasteten die Finger über den Fensterrahmen, das Glas, den festgerosteten Riegel. Sie sah sie sich heben wie die Hände einer Fremden, ohne jedes Gefühl; sah sie den Fensterriegel packen und aufstemmen. Langsam, Zentimeter um Zentimeter, gegen allen Widerstand, bis das alte Metall nachgab und die Fensterflügel so plötzlich nach außen schwangen, dass sie um ein Haar hinuntergestürzt wäre.
    Die Melodie strömte durch das offene Fenster.
    So zart - so machtvoll. Die Sehnsucht darin, die zwischen den engen Wänden des Dachbodens bisher nie mehr gewesen war als ein wehmütiger Seufzer, sie schwoll auf den Akkorden der Drehorgel an, wurde schmerzlicher, kraftvoller, weit und umfassend wie der Himmel über dem flachen Land, ohne Ende, ohne Ziel. Zu groß, um in einen beengten Dachboden zu passen. Zu groß, um ein kleines Mädchenherz nicht in Stücke zu zersprengen, das sie vergeblich zu umschließen versuchte. Dieses Lied … dieses Lied!
    Die Melodie riss an ihr, zerrte und zog an ihrem Innersten. Hör doch, Mina, hör doch! Hör hin!
    Sie hielt sich am Rahmen fest, bis ihre Fingerknöchel weiß wurden, weil sie wusste, wusste , dass die Melodie sie sonst hinunterziehen würde. Was? Was?, schrie es in ihr, was soll ich hören? Was willst du mir sagen? Warum bist du in meinen Hof gekommen - heute, jetzt, ausgerechnet jetzt? Warum um alles in der Welt spielst du dieses Lied?
Ich höre dich, ich fühle jede einzelne Note in mir, aber was, was ist es, das du mir sagen willst?
    Die dunklen Augen hielten ihre fest. Die Melodie sang zu ihr, sprach zu ihr, schrie und flehte zu ihr in einer fremden und doch so quälend vertrauten Sprache. Alle Schrecken der vergangenen Stunden, alle Fragen, alle Furcht - sie schienen alle darin zu liegen, in dieser schlichten Melodie, dieser Tonfolge, die sich in ihren Kopf bohrte. Wenn sie sie nur verstehen könnte!
    Und die dunklen Augen, die sie nicht losließen, sie teilten das Geheimnis, von dem die Melodie sprach; das Geheimnis der Spieluhr. In ihren Tiefen behüteten sie es.
    Schwarze Augen, was wisst ihr von diesem Lied?
    Das Lied, die Spieluhr … und die Photographien … Meine armen Kleinen …
    Sie musste hinunter.
    Das Taftkleid wisperte gegen den Fensterrahmen. Vielleicht war es dieses Geräusch, so fein, so erwachsen, das sie ein wenig wieder zur Besinnung brachte. Keuchend, als hätte sie sich stundenlang um sich selbst gedreht, klammerte sie sich weiter an den Fensterrahmen. Hinunter, ja.
    Aber nicht so.
    Irgendwie gelang es ihr, sich von den dunklen Augen loszureißen. Irgendwie stieß sie sich vom Fensterbrett zurück. Schaffte es, sich wegzudrehen, auch wenn alles in ihr danach schrie, beim Fenster, bei der Melodie zu bleiben. Wie trunken stolperte sie über die knackenden Dielen, packte die stumme Spieluhr, deren Geheimschublade mit einem Klicken zusprang und das Medaillon wieder in sich verbarg. Schüttelte sie, als könnte sie ihr Antwort geben. Hinunter, hinaus - aber wie?

    Sie konnte nicht wie eine Verrückte durch das ganze Haus rennen. Und schon gar nicht in dem kostbaren Kleid.
    Ihr Blick irrte durch den Dachboden. Da, an dem Balken, hing ein Leinensack mit alten Mänteln und Jacken. Sie riss ihn ungeduldig

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