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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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das rote Pferd und warf den Kopf zurück.
    Zum dritten Mal schluckte sie.
    Dann tat sie den ersten Schritt.

    Niemals, auch in späteren Jahren nicht, vergaß Mina die ersten Schritte auf der Landstraße an jenem Tag. Sie vergaß nie, wie die losen Steinchen unter ihren Stiefeln kratzten,
wie der Staub von der trockenen Erde aufwehte und ihre Nase kitzelte. Vergaß nie, wie die Wolken vor dem Wind riesenhafte Schatten warfen. Wie die Luft schmeckte, herber, kräftiger als im Garten. Wie die Halme raschelten auf dem Feld.
    Ihr langes Kleid knisterte bei jedem Schritt. So fremd, wie das Geräusch ihr noch war, so schwer und kratzig es auch an ihren Schultern hing, war es doch das einzig Vertraute, das Einzige, was vom Gutshaus sprach, von hohen Räumen, Polstern, Seidenvorhängen. Wie eigenartig es war, sich davon zu entfernen … Wenn die Familie Ausflüge machte, nahm sie das Haus in ihrem Wagen mit. Nicht nur das Geschirr, das im Picknickkorb steckte, die Korbstühlchen aus dem Wintergarten. Nein, etwas, das unsichtbar war und gleichzeitig deutlich spürbar, reiste unter dem schwarzen Verdeck mit ihnen. Es sorgte dafür, dass es kaum einen Unterschied machte, ob sie im Speisezimmer aßen oder auf jungem Gras unter Weidenzweigen. Das Haus und seine Gebräuche umgaben sie wie eine unsichtbare Hülle. Erst jetzt, wo sie fehlte, wusste Mina, dass sie da gewesen war.
    Sie hätte Angst empfinden sollen, und sie merkte auch, dass sie unter dem Wispern der Blätter immer wieder nach dem Knistern des Kleides lauschte und beruhigt war, wenn sie es heraushören konnte. Aber Angst? Wie gewaltig der Himmel über ihr war. Immer wieder legte sie den Kopf in den Nacken. Gewaltig und - unbekümmert, ja. Unbekümmert um diese winzigen, flachen Formen unter sich, die Bäume in den Hecken, den Knicks zwischen den Feldern, die Hügel, die nur den unbedeutenden Saum der Weite bildeten. Es war ein Staunen in ihr vor dieser Größe, das keinen Platz ließ für Angst.

    Mina wandte sich nicht mehr um, aber sie spürte das Gutshaus noch lange im Rücken. Es fühlte sich an wie ein Band. Eine lange Schnur, die sich dehnte, dünner und dünner wurde, je weiter Mina ging. Und irgendwann, nach der zweiten oder dritten Kurve, gab sie nach, ganz sacht, beinahe unmerklich.
    Das klare Licht, der Wind auf ihrer Stirn schienen mit jedem neuen Schritt einen großen Teil von dem zu vertreiben, was sich jetzt wie eine Art Fieber anfühlte. War sie eben noch durch das Haus geschlichen, wie ein kleines Kind, das mit sich selbst Verstecken spielte? Schon kam es ihr unwirklich vor, genauso wie die wilde Verzweiflung, die sie in der Brust gespürt hatte. Beinahe fand sie sich töricht. So einfach loszulaufen … Der Drehorgelmann war nirgendwo zu sehen; aber die Landstraße lag frei und offen vor ihr. Es gab nur diese eine. Irgendwann musste sie ihn sehen. Und wenn sie ihn sah, würde sie ihn fragen. Nach …
    Ah, aber hier war ein Gedanke, der sich wie eine offene Wunde anfühlte, trotz Wind und Luft und weitem Himmel. Ein Gedanke, der hinabführte anstatt voran. Der andere Gedanken mit sich brachte, Gedanken, die sie jetzt nicht denken wollte, nicht denken durfte. Nur weitergehen, einen Fuß vor den anderen setzen!
    Sie war ein wenig - verträumt , hatte die Mutter es nicht so gesagt? Ein verträumtes Mädchen. Konnte es nicht sein, wenn man eben ein wenig verträumt war, dass man sich über eine Melodie, ein paar Töne mehr aufregte, als jemand anderes es getan hätte? War es nicht möglich, dass sie nur wissen musste, woher es kam, dieses Lied, und was es bedeutete? War das so schlimm? War nicht selbst Mademoiselle - Mademoiselle, die alle gesellschaftlichen Regeln beherrschte
- einmal vom Sommerball eines anderen Gutes zurückgekommen und hatte unbedingt herausfinden müssen, wie ein neues Stück hieß, das dort gespielt worden war? Und hatte sie nicht, wenn auch mit deutlichem Missfallen, erzählt, dass junge Damen in Ohnmacht fielen, wenn der Geiger wehmütige Melodien anstimmte?
    Mina setzte die Füße entschlossener. Natürlich, natürlich war es nur ein Zufall gewesen, dass der Drehorgelmann ausgerechnet dieses Lied gespielt hatte. Vielleicht war es vor langer Zeit - die Spieluhr war sicherlich sehr alt - ein berühmtes Stück gewesen, ein Stück, nach dem alle Welt tanzte. Sie würde den Mann finden, hinter dieser Biegung oder hinter der nächsten, und würde ihn einfach fragen, wie es hieß und woher es kam. Er würde lachen, dass sich um seine

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