Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
etwas, etwas Dunklem, das aus ihrem Innern aufstieg; ungerufen, ungewollt. Vage, schwache Laute. Ein Klagen, wie sie es aus dem Esszimmer gehört hatte. Und es war - dieser Gedanke kam ganz aus der Tiefe -, es war nicht das erste Mal gewesen.
Das klagende Geräusch war lauter gewesen, damals, wann? - viel lauter. Es hatte in all den Zimmern des Gutshauses gehallt. Dinge, die umgestoßen wurden, polterten darunter, bis hinauf, hinauf in den ersten Stock, zwischen den zierlichen Holzsäulen des Treppengeländers hindurch, wo ein kleines Mädchen sich zusammenkauern konnte, ohne gesehen zu werden … Eine Männerstimme, die unverständliche,
beruhigende Worte sprach. Ein Kinderschrei im Flur, ganz kurz nur, wie abgerissen. Die Haustür, die zuschlug. Und dann nur noch das Klagen, das Weinen, unerträglich, untröstlich, stundenlang; immer schwächer und schwächer, bis es heiser und schließlich unhörbar wurde und doch weiter über allem schwebte, lange in die Abenddämmerung hinein …
Mina. Kleine Mina .
Zitternd atmete sie aus. Die Erinnerung füllte ihren Kopf, eine dunkle, wirbelnde Wolke. Sie verstand nicht, was es war, das sie sah, was es bedeutete; warum es sich so anfühlte, als müsste sie darunter ersticken. Nur eines wusste sie, mit einer großen, kalten Klarheit: Sie war nicht das Kind gewesen, das geschrien hatte, damals, im Flur.
Aber es war auch keine fremde Stimme gewesen.
Mina …
Waren das die Balken, die ihren Namen knarrten und knackten? Ein Vogel, der auf dem Dachfirst raschelnd sein Gefieder putzte?
Schweigend schimmerten die Photographien zu ihr auf.
Ihr papiernes Lächeln umfing sie, während Mina unsicher auf die Füße kam. Sie hielt sich am Fensterbrett fest, lehnte die Stirn gegen das Glas. Ganz warm noch von der Mittagssonne … warm, fest und beruhigend. Sie sah auf die steinerne Freitreppe unten, die scharfen Spuren der Doktorskutsche im Kies. Sein Pferd, klein, rot wie Fuchsfell, das angebunden hin und her trippelte. Irgendwo hinter der Verwirrung erinnerte Mina sich vage, dass der Doktor sich immer wieder über seine Wildheit beschwerte … Nur ein Hof, dort unten, mit Pferd und Kies und Kutschspuren. Ein
ganz gewöhnlicher Hof. Ihr Hof, und Vaters, und Mutters. Sie hielt sich mit den Augen daran fest.
Aber das Glas beschlug unter ihrem schnellen Atem, legte Nebelschleier auf die vertrauten Formen. Sie wischte daran herum, ihre Fingernägel klickerten gegen die Scheibe. Das Pferd des Doktors verschmierte zu einem roten Fleck. Immer heftiger rieb sie, immer stärker verschwamm der Hof.
Mina, kleine Mina. Hörst du nicht? Hör doch …
War die Spieluhr angesprungen, als sie aufstand? Konnte es das sein, was sie hörte? Der seltsame Klang wie von flüsternden Stimmen verschwand nicht aus ihrem Kopf, vermischte sich mit den Gedanken, den dunklen Fetzen der Erinnerung. Mina rieb und rieb an der Scheibe. Aber sie machte es nur noch schlimmer, und das Geräusch blieb, wurde sogar lauter. Ja, es war die Spieluhr, musste die Spieluhr sein. Unter dem schrillen Quietschen ihrer Finger auf dem Glas konnte sie jetzt einzelne Töne hören, schwach, aber klar; die vertraute Melodie … Mina drehte sich um, begegnete dem stillen Blick der Photographien in ihrer Schublade. Die Glasreste auf dem Deckel der Spieluhr drehten sich nicht. Aber die Melodie spielte weiter.
Der ganze fürchterliche Tag stürzte mit einem Mal über ihr zusammen, und es schluchzte in ihr auf. War denn alles verhext, verschworen gegen sie? Sollte es keine Ruhe geben? Nicht einmal hier oben?
Sie fuhr herum, zurück zum Fenster. Dachte endlich daran, den Ärmel herzunehmen statt die Finger. Da waren sie wieder, die friedliche Treppe, der alltägliche Kies. Das Pferd, das gerade den Kopf zu ihr drehte, als hätte es sie gehört. Sie wollte ihm zulächeln vor lauter Erleichterung, aber die
Melodie verstummte nicht, und noch während sie die letzte Schliere vom Glas rieb, fühlte sie schon, dass auch der Hof nicht mehr derselbe war wie zuvor. Etwas hatte sich verändert. Erst als sie den Blick hob, bis nach vorn, zum Zaun, erkannte sie, was es war.
Ein Drehorgelmann stand im offenen Tor.
Es war keiner von denen, die sie kannte. Weder das Männlein mit den hageren Beinen, dessen Orgel nur noch zwei Lieder spielte. Noch der lange August, der mit schiefen Zähnen lachte, während er von der Räuberbraut sang. Sie kamen alle paar Wochen, vom Frühjahr bis zum Herbst, und als Mina noch ein kleines Kind war, schickte
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