Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
ab, zur anderen Seite des Flurs. So schnell und so leise wie möglich schlich sie zur Gartentür.
Es war fast wie ein Wunder, als sie sich unter ihren nervösen Fingern ohne einen Laut öffnete und Gartenluft weich über ihr Gesicht strich. Pflanzen zupften sacht an
ihrem Mantelsaum, als sie geduckt den schmalen Weg entlanglief, zwischen Beeten und Büschen, die in der Sonne träumten, als wäre nichts geschehen. Nur noch ein paar Schritte - die letzte Biegung, bis sie zur Pforte kam, mit einem einfachen Riegel verschlossen, der sich ohne Schlüssel umlegen ließ. Sie fasste den Pfosten an, fühlte die glatte Farbschicht darauf; stutzte dann, einen Augenblick nur. Etwas Raues, Schartiges hatten ihre Finger berührt. Etwas wie Kerben im Holz …
Sie achtete nicht darauf, öffnete die Pforte, spürte die harte Erde der Straße unter ihren Stiefeln, und endlich, endlich rannte sie los. Die Hecke entlang, die das Haus und den Garten nach vorne hin säumte; um die Ecke herum zur Vorderseite, zum Zaun, der den Vorplatz umfasste. Sie rannte so schnell, dass das eiserne Rankenmuster des Zauns neben ihr zu tanzen schien. Weiter nach vorn, zum Tor, dessen beide Flügel immer noch weit offen standen. Jetzt - jetzt musste sie ihn gleich sehen können! Er hatte doch nah beim Tor gestanden? Jetzt - oder jetzt! Ein, zwei Schritte noch!
Und da war der Hof mit dem Kies und der Treppe, und da war das rote Pferd, das mit den Hufen scharrte. Und sonst war da nichts.
Kein kleiner Mann mit dunklen Augen. Keine Drehorgel auf ihrem Dorn. Mina riss die Augen auf, aber sie sah nicht einmal Fußspuren im Kies. Und jetzt erst merkte sie, dass die Musik verstummt war.
Wie bitter schmeckte die Enttäuschung. Kein Drehorgelmann. Auf dem Hof nicht und auch nicht auf der Straße, so weit Mina sie überblicken konnte. Schnurgerade lief sie in dieser Richtung am Gutshaus vorbei, zum Dorf hinunter,
bis sie dort auf die ersten Häuser traf. Wäre er auf ihr weitergegangen, hätte Mina ihn noch sehen müssen. Aber da war nichts, endlos weit nichts. Etwas in ihr sackte in sich zusammen.
Nur ein letztes, winziges Fünkchen Hoffnung blieb noch am Leben. Sehr langsam wagte Mina es irgendwann, den Kopf in die andere Richtung zu drehen. Die Straße führte dort am Ende zum Fluss, das wusste sie von den Sommerausflügen; in beinahe ebenso vielen Schleifen und Windungen wie das Wasser der Schlei selbst. Nein, auch in dieser Richtung regte sich nichts. Aber ganz kurz hinter dem Ende der Hecke - dort war schon die erste scharfe Kurve. Hinter der man die Straße nicht mehr sah.
Mina schluckte.
Er war fort. Der Drehorgelmann war fortgegangen. Aber er musste noch ganz in der Nähe sein, bestimmt, hinter der Kurve. Sie sah ihn nur nicht mehr. Wenn sie der Landstraße zum Fluss folgen würde …
Eiskalt schmeckte dieser Gedanke. Niemals, niemals zuvor hatte sie allein den Gutshof verlassen. Niemals. Und trotzdem …
Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zum Haus auf. Das Giebelfenster blickte zu ihr herunter, voller Schatten und Rätsel. Rätsel, von denen sie eins in der Manteltasche trug.
Sie schluckte noch einmal. Legte eine Hand auf den steinernen Pfosten, der einen Flügel des mächtigen Tores hielt. Fühlte den harten, sicheren Stein unter ihren Fingern, und dann - etwas Schartiges, zum zweiten Mal schon, wie an der Gartenpforte. Als sie die Hand überrascht beiseitenahm, waren da Linien im Stein, tief eingeritzt, so frisch,
dass sie hell aus dem Grau herausleuchteten. Ein eigenartiger kleiner Schnörkel, wie ein gebogener Pfeil. Sie wusste nicht, was er zu bedeuten hatte. Aber die Spitze des Pfeils zeigte in Richtung der Kurve, die die Straße beschrieb.
Einen Moment lang kam es ihr so vor, als balancierte sie wieder auf dem hohen, schmalen Sims, der die Terrassenmauer krönte, wie früher, als ganz kleines Mädchen. Links ging es so tief in den Garten hinab, in die Rosen, die ihre dornigen Arme schon nach ihr ausstreckten, und rechts warteten die harten, kalten Steinplatten darauf, ihre Knochen zu zerschmettern. Die Arme weit, weit ausgebreitet, einen schwankenden Schritt nach dem anderen tun, das herrliche flaue Gefühl im Magen und die unsagbare Angst vor einem plötzlichen Windstoß … Auf die Unterlippe beißen, so fest, bis man sich selber spürte, lebendiger, deutlicher als alles andere ringsum, bis die reißenden Dornen, die knochenbrechenden Steine nur noch Schatten waren und die Brust einem so weit und frei wurde.
Im Hof wieherte
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