Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
öffnete sich eine zweite Schublade von selbst, und die Kristallreste auf dem Deckel zitterten, wenn sie heraussprang.
Es hatte Zeiten gegeben - viele Zeiten -, da war die Kuppe an Minas rechtem Zeigefinger von den Druckstellen der alten, abgebrochenen Hutnadel übersät gewesen wie von winzigen Mückenstichen. Es war nicht leicht, den richtigen Winkel zu finden, in dem man in das Loch stechen musste. Sie hatte es immer und immer wieder versuchen müssen, bis es ein weiteres Mal gelang. Es wäre zu gefährlich gewesen, die Spieluhr offen stehen zu lassen; ab und zu wurde eines der Mädchen auf den Boden geschickt, um irgendein altes Ding zu holen, das vielleicht doch noch einen Dienst versehen konnte. Und zulassen - nein, zulassen konnte sie sie auch nicht.
Denn in der geheimen Schublade unter dem alten Schmuckfach wohnten die Zwillinge.
Das Medaillon, in dem sie steckten, war zugeklappt gewesen, als sie es zum ersten Mal fand; seitdem hatte sie es immer offen gelassen, auch wenn die geheime Schublade geschlossen war. Sie hatte oft genug die Dorfjungen unten auf der Straße beobachtet, um zu wissen, dass es nicht gutgehen konnte, wenn zwei von ihnen sich immerfort in die Augen sehen mussten, auch wenn es Geschwister waren. Und wer konnte sagen, wie lange sie schon so gelegen hatten? Sicher war selbst das wurmstichige Holz einer Schubladenunterseite eine willkommene Abwechslung für sie.
Denn sie liebten es, Dinge zu betrachten.
Im ersten, flüchtigen Erstaunen hatte Mina geglaubt, dass es dasselbe Bild war, oder vielmehr, zwei Bilder von demselben Jungen, zwölf, dreizehn Jahre alt. Dieselben dunklen Haare mit derselben Welle über der Stirn. Dieselben verschmitzten Augen. Dasselbe Lächeln, so sanft und brav, eingefangen in dem winzigen Moment, bevor es in Lachen zerstäubte; wie beim Gärtnerjungen, wenn er sich im Blumengarten die Sorten erklären lassen sollte, deren Emailleschilder er vorher vertauscht hatte. Ein fügsames, wissendes Lächeln - ein Moment gedankenlosen, reinen Glücks - und dann die Prügel, die Schläge, die bis in den Flur hallten …
Die Zwillinge waren klüger. Sie ließen es niemals hinaus, das Lachen, verbargen es in den Mundwinkeln; doch hierin unterschieden sie sich: Der linke ließ das Lächeln aufsteigen und dann in einem kleinen, nach unten gebogenen Häkchen enden, der rechte hielt es mit einem Grübchen gefangen. Und über je einem Mundwinkel stand, halb vom Schatten der Wange verborgen, ein kleines, dunkles Mal. Einmal rechts; einmal links.
Es war nur ein Leberfleck, aber er war ungewöhnlich geformt. Wie ein Blatt oder ein geschwungener Strich. Oder wie eine Vogelfeder.
Wenn man erst diesen Unterschied entdeckt hatte, war es leicht, mehr zu finden: Wimpern, einmal gerade, einmal geschwungen. Ein Wangenknochen, der hier einen weichen Halbmondschatten, dort ein scharfes Schattendreieck auf die blasse Haut zeichnete. Sommersprossen.
Aber das spiegelverkehrte Mal war am deutlichsten. Und hinter dem Lächeln, an dem es endete, diesem freundlichen, gutmütigen Photographenlächeln … etwas anderes.
Etwas wie nachdenkliche Neugier. Oder Herausforderung?
Mina atmete noch einmal aus, lang und tief. Sie streichelte mit einer Fingerspitze über die Ränder des Medaillons, zögernd zuerst, dann sicherer. Die seltsame Stimmung in den beiden Jungenlächeln erinnerte sie jetzt ein wenig an den Ausdruck des schwarz-weißen Katers, wenn sie ihn im Garten vor einem Mauseloch warten sah; bedächtig, versonnen, Stunde um Stunde, und nur die Schwanzspitze zuckte hin und her. War es dieses Lächeln gewesen, was sie vor langer Zeit zum ersten Mal dazu gebracht hatte aufzustehen, wenn die Spieluhr spielte - sich zu drehen mit den schönen bunten Damen an den Wänden, ganz im gleichen Takt, einszweidrei, einszweidrei …? Der Blick aus der geheimen Schublade schien immer anerkennend zu sein, wenn sie tanzte; wenn anfangs das einfache weiße Rüschenkleid um ihre dicken Kinderbeinchen wehte und später dann die Faltenröcke, die jedes Jahr eine halbe Handbreit länger wurden.
Wie viele Stunden sie mit den beiden verbracht hatte! Die Mamsell hatte sich immer gewundert, dass Mina nie mit ihren Puppen sprach, sie nur kämmte und anständig anzog und wohl auch mit ihnen auf dem Teppich im Wintergarten spielte; aber nie ihre Sorgen mit ihnen teilte, ihre kleinen Kinderkümmernisse. Sie hatte nicht gewusst, dass die Zwillinge viel bessere Zuhörer waren als jedes noch so kunstvoll bemalte
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