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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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Porzellangesicht. Und sie antworteten auch, auf ihre Weise. Ihr Ausdruck war niemals derselbe, wenn man ihnen etwas erzählte. Er veränderte sich wie das Licht, das in die Bodenkammer fiel. Manchmal, wenn die ersten Abendschatten durch den Raum strichen, wirkten
sie so lebendig - winzige Miniaturen von Jungen, nicht größer als eine Kinderhand -, und es war beinahe unheimlich, dass sie nicht aus dem Medaillon hervortraten. Sie hätte sie in die Schürzentasche stecken und heimlich überall mit hinnehmen können, ins Schulzimmer, auf die Terrasse, zum Essen.
    Mina erinnerte sich, dass es Tage gegeben hatte, wo sie ernsthaft überlegte, ob sie etwas von dem Essen aus dem Speisezimmer auf den Boden schmuggeln sollte. Einen kleinen Kuchen, eine Handvoll Kekse mit Marmeladenfüllung vielleicht. Wenn man ein Küchlein auf ein Stückchen Stoff legte, genau vor der offenen Spieluhrenschublade, vielleicht, vielleicht wäre es dann verschwunden gewesen, wenn man ein paar Stunden später wiederkam.
    Am Ende war es gerade dieser Gedanke gewesen, der dazu geführt hatte, dass sie die geheime Schublade nicht mehr so häufig öffnete. Er war beunruhigend. Beunruhigend, weil sie sich damals beinahe sicher gewesen war, dass es so sein würde - dass auf dem Stückchen Stoff nur noch Krümel liegen würden, wenn sie die Zwillinge das nächste Mal besuchte. So sehr sie glaubte, dass die beiden ihr wahrhaftig zuhörten, wenn sie ihnen von ihren Sorgen erzählte - so sehr sie sich auch wünschte, sie in der Schürzentasche herumtragen zu können -, etwas daran, etwas an der Vorstellung, hinaufzukommen und den Kuchen verschwunden zu sehen, war nicht gut.
    Sie hatte lange ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie sie seltener und seltener in ihrer Schublade besuchte; obwohl sie es nicht übelzunehmen schienen. Immer lächelten sie ihr entgegen, wenn die Hutnadel den geheimen Mechanismus aufspringen ließ, und sie glaubte zu fühlen, dass
sie sich freuten, wenn sie die Spieluhr aufzog und die sehnsüchtige kleine Melodie durch die Dachkammer schwebte. Wie lange mochte es jetzt her sein, dass sie sie zum letzten Mal berührt hatte?
    Die Oberflächen der Photographien waren staubig, trotz der Schublade. Mina beugte sich vor und blies sanft darüber. Unter der Wärme ihres Atems bewegte sich das Papier ein wenig. Sie wollte das Lächeln der Bilder erwidern. Aber es gelang ihr nicht.
    »Ich bin hier«, flüsterte sie. »Ich, Mina. Es tut mir leid, dass ich euch alleingelassen habe. Ihr beiden in eurer alten Schublade. Ihr armen - ihr armen Klei …«
    Sie stockte.
    Wortfetzen echoten in ihrem Kopf.
    Meine armen Kleinen … das Beste … für Wilhelmina …
    Sie starrte die Photographien an.
    Schweigend lächelten sie weiter zu ihr auf, jeder auf seine ganz eigene Art. Vielleicht warteten sie darauf, dass sie weitersprach. Vielleicht sahen sie tief in ihren Kopf hinein mit ihren Papieraugen, lasen die seltsamen, rätselhaften Worte, die das Blut dort pochen ließen, dumpfer jetzt, aber unüberhörbar weiterhin. Meine armen … für Mina …
    Plötzlich hatten sie einen neuen Klang bekommen.
    Mina sah auf die Spieluhr hinunter, das glatte Holz, den zerschlissenen Samt. So vertraut seit Kindertagen, und doch - sie gehörte ihr nicht, nicht wahr? Sie hatte sie nur gefunden, an irgendeinem Nachmittag. Hier oben, auf dem Dachboden.
    Wer hatte sie hinaufgebracht?
    Der Gedanke dachte sich von selbst, zum allerersten Mal.
    Wem hatte sie gehört?

    Mina berührte die Spieluhr, aber sie gab ihr keinen Halt mehr. Ihre Finger glitten ab, streiften über die Splitter auf dem Deckel, die einmal Figuren gewesen sein mussten, zart und glänzend und zerbrechlich. Ganz ähnlich vielleicht wie die Figuren in Mutters Porzellanschrank.
    Wer hatte die Spieluhr auf den Dachboden gebracht?
    Minas Herz klopfte. Sie schüttelte heftig den Kopf, aber die Gedanken rannen nicht einfach aus ihren Ohren wie Wasser nach dem Baden. Sie dachten sich weiter.
    Wem hatte das kleine Kästchen gehört? Wer hatte die geheime Schublade gekannt? Wer hatte die Photographien hineingelegt, die Schublade geschlossen und sie verborgen? Verborgen - vor wem? Und warum?
    Meine armen Kleinen …
    »Nein«, flüsterte Mina. »Nein, das kann nicht sein. Das ist doch nicht möglich …«
    Sie wedelte sich mit der flachen Hand Luft zu, wie es die Mutter tat, wenn sie versuchte, sich zu beruhigen. Es nützte nichts. Die Gedanken wirbelten durcheinander wie Rauchschwaden im Wind. Vermischten sich mit

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