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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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hörte: Einszweidrei, Einszweidrei … Minas Herzschlag mischte sich darunter, laut und aufgeregt.
    Ihre Füße in den harten Knöpfstiefeln waren vom langen Knien taub geworden, und sie schwankte, als sie aufstand, die Spieluhr fest in der Hand. Links von ihr, ein Stück den Bach hinauf, streichelte eine niedrige Trauerweide hinter Sträuchern mit ihren langen Zweigen das Wasser. Die Töne schienen von dort zu kommen. Und es war nicht das metallische Zirpen der Spieluhr, was sie hörte. Es war lauter, kräftiger. Aber nicht weniger sehnsüchtig …
    »Bitte«, sagte Mina stockend, obwohl sie sich dumm dabei vorkam, »ist da jemand?«
    Die Weide und das Wasser antworteten nicht.
    Sie streifte ein paar Straucharme beiseite, winzige Blätter fielen auf ihren Rock, als sie sich behutsam zwischen den Zweigen hindurchschob.
    »Guten Tag?«
    Der Boden unter den Büschen war weicher, schlammiger als dort, wo sie gekniet hatte. Ihre Stiefel sanken ein, und wenn sie sie herauszog, schmatzte die feuchte Erde. Es klang missbilligend, wie das Ts, ts, ts! einer würdigen Dame, die sich über ein ungebührliches Benehmen mokierte. In der Stille darüber wurden die Töne deutlicher.
    »Bitte, ich will auch nicht stören …«
    Je näher sie dem Baum kam, desto dichter schienen die Sträucher zu werden. Sie musste die Spieluhr zurück in die Tasche schieben, um beide Hände frei zu haben, und immer wieder schlug sie ihr schmerzhaft gegen die Hüfte. In der Mitte des Gebüschs hätte sie nicht mehr zurückgehen können, selbst wenn sie es gewollt hätte; so eng schlossen sich die Zweige hinter ihr.

    Aber sie wollte nicht zurück. Auch wenn ihr Herz klopfte und flatterte, auch wenn düstere Bilder sich in ihrem Kopf überschlugen, bis sie kaum noch die Sträucher sehen konnte. Sie musste wissen, woher die Töne kamen. Sie hörte es jetzt so deutlich, das raue, pfeifende Geräusch unter der Melodie, das leichte Schleifen, wie von einem mechanischen Gerät, größer als die Spieluhr; und sie wusste, woran es sie erinnerte. Zwischen den Zweigen blendete sie das Licht auf dem Bach wie die Sonnenstrahlen, die sich im Dachbodenfenster gebrochen hatten.
    »Bitte«, flüsterte Mina und schob die Sträucher mit beiden Händen beiseite. »Bitte, geh nicht … Warte. Warte!«
    Es klang wie ein Echo in ihren eigenen Ohren.
    Und dann standen da keine Büsche mehr, nur der graue, bucklige Weidenstamm, der sich über das Wasser krümmte und so einen Bogen bildete aus Rinde und Laub. Und in dem Bogen, auf einem Bett aus Blättern, lag der Drehorgelmann auf dem Rücken und schlief.
     
    Auch ohne die Drehorgel hätte sie ihn sofort erkannt. Der bunt bemalte Kasten stand dicht neben seinem Kopf, an die Weide gelehnt.
    »Oh«, hauchte Mina, als sie sah, wie die Kurbel an der Seite sich drehte, ohne dass jemand sie berührte. »Oh …«
    Sie wusste, dass er es war; wusste es so klar und eindeutig, wie sie wusste, dass es kein mechanischer Trick war, der die Drehorgel dazu brachte, von alleine zu spielen.
    »Oh«, wisperte sie ein drittes Mal und ließ sich auf den feuchten, weichen Boden sinken.
    Wie blass sein Gesicht war unter den tiefschwarzen Haaren. Blass und still.

    Mina starrte ihn an, und er war Wirklichkeit. Sie hätte die Hand ausstrecken können und ihn berühren, die bleiche Wange, den silbergrauen Mantel, in den er gehüllt war, die schlanken Hände, die er über dem Bauch ineinander verschlungen hielt. Sie hätte es tun können, und sie wusste, sie hätte Haut unter den Fingerspitzen gespürt, und Stoff, und Haare. Er war kein Zittern in der Luft, das verschwand, wenn man genauer hinsah. Kein Trugbild, das ihrem Kopf entsprungen war und sie auf der Landstraße zum Narren gehalten hatte. Wirklichkeit. So unwahrscheinlich es auch sein mochte.
    Mina wagte es nicht, ihn anzurühren. Aber sie atmete einmal tief ein und ließ die Luft dann langsam über ihre Lippen strömen; und mit dem Atem, der dahinfloss wie der Bach, wurde das Gewicht, das die ganze Zeit auf ihrer Brust gelastet hatte, etwas leichter. Er war da. Sie hatte ihn sich nicht eingebildet.
    »Drehorgelmann«, flüsterte sie irgendwann, »warum hast du nicht auf mich gewartet? Ich konnte doch nicht schneller sein, sie hätten mich bemerkt … Und woher, woher kennst du nur dieses Lied?«
    Er antwortete nicht, und in seinem bleichen Gesicht blieb alles still. Weidenblätter fielen auf seine Haare. Er bewegte sich nicht.
    »Drehorgelmann …«
    Nicht einmal eine Wimper regte sich.

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