Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
Vom Netzwerk:
seinem Reich, die Töne, mit denen er verborgene Bäche wieder zum Fließen bringen konnte, das Lied, mit dem man die Blumen unter dem Schnee weckt. Und eine Melodie als Antwort für jede einzelne der vielen Menschenfragen, die jemals gefragt worden sind. Der Spielmann, Mina, war der König. Und er schlief sein ganzes Leben lang niemals unter einem anderen Dach als unter Wolken und Himmel und Baumkronen.«
    »Aber das ist … das ist doch nicht wahr«, Mina wagte es nur ganz leise auszusprechen. Schulbuchseiten flirrten vage vor ihrem inneren Auge. »Die Spielleute im Mittelalter … Mademoiselle sagte, es waren nur Gaukler, Bettler, die musizieren konnten, bis auf die wenigen, die es an den Königshof schafften. Den richtigen Königshof.«
    Das Letzte kam scharf heraus, und sie legte sich die Hand auf den Mund.
    »Mademoiselle scheint eine gebildete Frau zu sein, wer auch immer sie ist«, sagte Lilja ruhig. »Aber das Gedächtnis in ihren Büchern ist zu kurz. Früher , Mina. Viel früher.
Als der Wald noch das ganze Land bedeckte, von Küste zu Küste, und die Orte der Menschen nicht mehr waren als winzige Inseln im endlosen Grün. Ich habe nie eine Schule von innen gesehen, Mina, aber ich kenne alle Lieder, die uns an diese Zeit erinnern. Jeder von uns kennt sie. Weil er sie uns nie vergessen ließ.«
    »Das heißt, er ist …« Mina schluckte. Hatte sie nicht davon gehört? In irgendeiner Geschichte, die man ihr erzählte, als sie noch klein war und in der Hitze eines Sommerabends nicht einschlafen konnte? Verbarg sich nicht irgendwo eine alte, verschwommene Vorstellung in ihr, von schattigen Wegen zwischen knorrigen Stämmen, und einer hoch aufgerichteten Gestalt, die zwischen ihnen schritt? Seine Kleider waren einfach und voller Flicken, er trug eine Fiedel unter dem Arm, von der bunte Bänder wie Lieder wehten.
    »Der Taterkönig«, wisperte sie. Sie drehte sich um und sah Lilja an. »Der Herrscher über alle Zigeuner …«
    Lilja lächelte wieder. »Er herrscht nicht«, sagte sie sanft. »Er herrscht so wenig, wie das Land herrscht. Er ist. Und er erinnert sich.«
    Minas Blick flog zurück zu dem stillen Gesicht unter dem hauchfeinen Schleier.
    »Aber er ist nicht einmal wach!«
    Liljas Augen verdüsterten sich.
    »Doch, Mina. Er ist wach. Das Land schläft niemals. Sieh hier«, sie fuhr mit der Hand durch das kurze Gras und die Blätter unter dem Weidenbogen, und unter ihren Fingern sah Mina plötzlich die winzigen, blassblauen Blumen wieder, die sie schon beinahe vergessen hatte. Sie leuchteten auf, wenn die Fingerspitzen sie streiften, und verschwanden,
sobald die Hand weiterwanderte. Ein Feenkreis zog sich um den schlafenden Drehorgelmann.
    »Er schläft nicht. Er ist …« Dieses Mal hörte Mina den Seufzer, der tief aus ihrer Brust kam. »Er ist krank, sehr krank, Mina. Und er hat sehr viel Kraft aufwenden müssen, um dich zu rufen und dir den Weg zu zeigen.«
    »Aber was will er denn nur von mir?« Minas Augen füllten sich mit warmen Tränen. »Was kann er denn von mir wollen? Ich bin nur ein Mädchen, ich weiß nicht einmal, weshalb ich hier bin …«
    Lilja hob wieder die Hand, und diesmal zuckte nichts in Minas Inneren zurück, als sie ihr eine weitere Strähne aus der Stirn schob. Es fühlte sich an wie eine Umarmung.
    »Ich kann es dir nicht sagen, Mina«, sagte Lilja. »Die Drehorgel fing an, das Lied zu spielen, das in deiner Spieluhr ist, vor einigen Tagen. Und er verschwand mit ihr, um irgendwann wieder da zu sein. Er spricht schon lange nicht mehr, siehst du. Ich weiß nicht, weshalb du hier bist. Auch Tausendschön hat uns nicht mehr gesagt, als dass du ein junges Mädchen bist von einem der Güter; ein junges Mädchen auf einer Suche. Aber was es ist, das du suchst, und weshalb es dich zu uns gebracht hat - das kannst nur du wissen, Mina.«
    Mina schlang die Arme um die Knie. Sie sah die Spieluhr an, oben auf dem Deckel der Drehorgel; die zersplitterten Figuren, die das Licht so wunderbar malen konnten. Sie dachte an die Melodie, die ihr durch so viele endlose Tage geholfen hatte, beinahe ihr ganzes Leben lang. Und sie dachte an das Medaillon in seiner Schublade, die beiden Jungengesichter mit ihrem spitzbübischen, nachdenklichen Lächeln. Vertraute ihrer Kindertage. In ihrem Kopf
stand sie wieder im Flur zu Hause, hörte das Gespräch hinter der angelehnten Tür, das Weinen der Mutter. Und sie fühlte wieder das Echo, das das Geräusch in ihr wachgerufen hatte; die eine Erinnerung, die

Weitere Kostenlose Bücher