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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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eindringlich dieselbe Botschaft vermittelt hatten wie die Melodie . Komm herunter … Seine Augen, denen sie geglaubt hatte. Und sie hatte sich getäuscht.
    Sie stieß mit dem Fuß nach dem Weidenstamm, und der Schmerz in ihrem Knöchel linderte das Brennen in ihrem Innern ein wenig. Der Drehorgelmann schien auch davon nichts zu bemerken. Er lag nur weiter still da und starrte an ihr vorbei in die Blätter, als schliefe er jetzt mit offenen Augen.
    »Lügner«, wisperte sie.
    Es war Liljas Stimme, die ihr antwortete.
    »Nein«, sagte sie leise, und die große, schlanke Gestalt erschien hinter der Weide. »Nein, ein Lügner ist er nicht. Vieles; sehr vieles. Aber kein Lügner.«

    Sie kam um den Baum herum, eine Hand streifte leicht über die Rinde, wie bei einem unbeholfenen Tanzpartner. In dem Saum ihres Kleides, der immer noch feucht war, hatten sich Blätter und kleine Zweige verfangen. Es wirkte mehr wie eine eigentümliche Bordüre als wie Schmutz. Die Blätter raschelten, als Lilja sich zu ihr hockte.
    »Aber er hat mich doch gerufen«, sagte Mina bitter. »Oder stimmt das auch nicht?«
    »Doch.« Lilja strich ihr eine lose Strähne hinters Ohr, so unbefangen, wie sie es bei sich selbst getan hätte. Die Berührung war sanft und leicht, aber Mina wäre ihr am liebsten ausgewichen.
    Lilja spürte es. Sie zog die Hand zurück, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
    »Doch, er hat nach dir gerufen. Mehr als das. Er ist zu dir gekommen, um dir den Weg zu zeigen. Obwohl er ist, wie du ihn hier siehst. Obwohl Jahre vergangen sind, seit einer von uns ihn in dieser Welt aufstehen und herumgehen sah.«
    Mina sah in das bleiche Gesicht hinunter, die starren, leblosen Augen. Ein Schauder streifte sie sacht.
    »Was … ist denn mit ihm?«, fragte sie zögernd.
    Lilja saß ganz ruhig da. Aber Mina fühlte das Seufzen durch ihren Körper gehen wie den Wind durch die Wipfel der Bäume.
    »Ich weiß nicht, ob ich die Worte finden kann, um es dir zu erklären. Aber vielleicht kann ich dir etwas zeigen, etwas, das dir helfen wird zu verstehen. Und etwas, das deinen Zorn ein wenig besänftigt.«
    Sie grub die langen, schmalen Finger in die feuchte Erde am Bachufer. Dunkle Krümel hafteten an ihrer Haut, als
sie sie wieder herauszog. Sie griff nach der Hand des Drehorgelmanns, der sich nicht rührte, drehte sie herum und streifte die Erdkrumen in seiner Handfläche ab.
    »Sieh«, sagte sie leise.
    Zuerst wusste Mina nicht, was sie meinte. Die offene Hand lag ruhig da, unbeweglich, wie bei einem Bewusstlosen. Dann strich ihr Blick weiter nach oben, und ein kleines, erschrecktes Geräusch sprang aus ihrem Mund. Die starren Augen unter den schwarzen Wimpern färbten sich langsam dunkelbraun.
    »Er ist«, sagte Lilja, »wie das Land ist. Das Wasser, mit dem du dich gewaschen hast. Die Bäume, die dich behütet haben. Die Erde, die dich trägt. Seine Haare sind voller Tropfen, wenn es regnet, auch wenn er im Trockenen liegt. Seine Haut glüht wie in der Sommersonne, selbst wenn er sich in einem Keller verbergen würde. Er ist, wie das Land ist, Mina. Und das Land ist in ihm.«
    Mina starrte in die braunen Augen.
    »Das ist nicht möglich«, flüsterte sie tonlos.
    Lilja lächelte.
    »Es ist nicht möglich, dass es nicht so ist«, sagte sie.
    »Aber er ist nur ein Drehorgelmann …«
    »Nur?« Lilja lachte leise. »Die Menschen auf den Gütern haben wirklich viel vergessen, wenn du so denkst, Mina. Aber es sollte mich nicht wundern. Heute wohnt der Kaiser in steinernen Palästen, und wenn man ihn einmal auf dem Land sieht, fährt er in einem vornehmen Wagen, so schnell, dass nicht einmal ein Blatt Zeit hat, sich auf seine Schulter zu setzen.«
    Es war das erste Mal, dass Mina jemanden über den Kaiser sprechen hörte, ohne dass derjenige sich, wenigstens
andeutungsweise, verbeugte und die Stimme ehrfurchtsvoll senkte. Aber Lilja schien es nicht einmal zu bemerken.
    »In früheren Zeiten«, sprach sie ruhig weiter, »viel, viel früheren Zeiten, waren die Spielleute die Könige der Menschen, und die Könige waren Spielleute. Weißt du, was ein Spielmann war? Er zog von einem Ort zum anderen, mit Liedern, aus denen die Menschen lernen konnten, was richtig und was falsch war. Der Spielmann hütete die Wahrheit in seinen Liedern. Er wusste alles darüber, wie die Welt entstanden ist, warum es Bäume gibt, Häuser, den Sonnenuntergang. Was Liebe bedeutet und wie man den Schmerz lindert. Er kannte die Melodie jedes einzelnen Wäldchens in

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