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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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Und je länger Mina den Drehorgelmann betrachtete, desto mehr kam es ihr vor, als liege eine Art dünner Schleier über seinem Gesicht; ein zarter Dunst oder eine feine Hülle aus Wasser, als ob der tiefe Schlaf, der ihn hielt, ihn beinahe sichtbar umgab. Nicht einmal sein Alter hätte sie einschätzen können.
Er trug keinen Backenbart wie der Vater und die anderen Gutsbesitzer, die Mina kannte, und keinen Schnurrbart wie ihre erwachsenen Söhne. Aber er war auch nicht jung. Feine Linien schienen sich durch sein Gesicht zu ziehen, um die geschlossenen Augen, den Mund mit den blassen Lippen.
    »Drehorgelmann, warum hast du mich aus dem Haus gerufen?«
    Nur die Drehorgel antwortete, mit der immer gleichen Melodie.
    Mina seufzte. Sie berührte die Drehorgel, deren Kurbel sich immer noch drehte. Das Holz fühlte sich warm und lebendig an.
    »Was bist du nur für ein sonderbares, sonderbares Ding«, wisperte sie.
    Das Instrument war glatt unter ihren Fingern, beinahe seidig, obwohl das Holz alt und verwittert aussah. Verblasste Ranken und Schnörkel waren darauf gemalt, Blumen, Zweige. Es wirkte wie ein Muster, obwohl sie keines erkennen konnte. An manchen Stellen waren Holz und Farbe abgesplittert, aber selbst dort fühlte die Drehorgel sich glatt an, als wäre eine Art feine Haut über die Wunden gewachsen. Es erinnerte Mina an die Spieluhr, die Zacken der Kristallsplitter, die mit den Jahren unter ihren Berührungen weniger scharf geworden waren. Die Spieluhr …
    Mina holte sie wieder aus der Tasche, löste das Medaillon und versteckte es in der geheimen Schublade, ohne es zu öffnen. Einen Moment zögerte sie, bevor sie sie auf den Deckel der Drehorgel stellte. Aber es fühlte sich richtig an, und in dem Augenblick, als die kleinen, wackeligen Holzfüßchen das größere Instrument berührten, hörte die Kurbel auf, sich zu drehen, und die Melodie verstummte.

    Beinahe hätte Mina gelacht. Es war so unsinnig, und es war genau das, was sie erwartet hatte. Wer weiß schon, dachte sie, vielleicht wurden die beiden aus demselben Holz geschnitten? Mamsell hatte ihr einmal in dem polierten Eichenboden im Esszimmer zwei Dielen gezeigt, die zueinander gehörten; am Astloch konnte man es erkennen. Zwei Dielen aus einem ungeheuren Stapel, und dort im Esszimmer waren sie genau nebeneinander zu liegen gekommen.
    Aber das war nicht mehr als ein Zufall gewesen. Dummes Zeug, zu denken, zwei leblose Dinge könnten einander erkennen. Waren das nicht die Worte von Mamsell gewesen? Ein Bretterpaar, das sich daran erinnerte, ein Baum, derselbe Baum gewesen zu sein - dummes Zeug, Fräulein Mina! Sind Sie denn ein kleines Kind? Sollen wir wieder mit dem Zählen bis zehn anfangen und mit dem Alphabet? Da muss ich aber wirklich lachen!
    Jetzt lachte Mina auch, und das Lachen war kurz und rau und schmeckte bitter in ihrem Mund. Das alles, alles war dummes Zeug! Hier saß sie, neben einer Drehorgel, die von alleine spielte, und vor ihr lag ein Mann und schlief und wachte von den lautesten Geräuschen nicht auf; und er war der, den sie gesucht hatte, und dass sie ihn gefunden hatte, löste nichts, sondern machte alles nur noch schlimmer. Und selbst wenn er aufwachte und ihre Fragen beantwortete, was würde er da sagen? Was konnte er sagen, um all das zu erklären, was geschehen war? Nur dummes Zeug! Weil es keine Erklärung gab, die zu geheimnisvollen Drehorgelmännern passte; zu wispernden Bildern, sprechenden Katzen und der Wilden Jagd, die einen über die Landstraße hetzte. Keine Erklärung, über die jemand wie Mamsell nicht gelacht hätte.

    Das Gefühl der Erleichterung verschwand und ließ nur Leere zurück. Sie fühlte sich erschöpft, trostlos, rieb sich über die brennenden Augen. Wieder bellte ein Hund irgendwo, auf der anderen Seite des Baches. Es war so weit entfernt, dass Mina es kaum bemerkte. Aber als das Bellen zwischen den Blättern verklang, öffneten sich plötzlich die Augen des Drehorgelmanns.
    Mina erschrak. Es war so schnell geschehen, ohne jede Vorbereitung. Und der Blick ging so starr an ihr vorbei. Die Wimpern bewegten sich nicht, die Lider schlugen nicht. Als sie sich furchtsam vorbeugte, sah sie, dass die Augen nicht dunkel waren, sondern wasserfarben, blass und voller grüner und gelber Sprenkel.
    Sie ließ die Hände in den Schoß fallen. Dabei war sie sich so sicher gewesen … Es waren doch seine Augen gewesen, diese dunklen Weiher, die sie bis hinauf in den Dachboden gesehen hatte! Seine Augen, die ihr so

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