Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
dabei.«
»Pipa!« Rosa zog sie an einer Haarsträhne, die von einer roten Schleife gehalten wurde. »Sei nicht so unfreundlich. Sie ist von einem Gut, hast du das nicht gehört? Sie weiß nichts über die Nacht. Wie sollte sie auch?«
»Und du, Pipa, meine unhöfliche Tochter, weißt nichts darüber, wie sich andere in ihrer Haut fühlen.«
Die große Frau war bei ihnen, ohne dass Mina gemerkt hatte, wie sie gekommen war. Wie lange stand sie schon dort, an einen Stamm gelehnt, so grün und dunkel und schlank wie eine der Erlen? Ihr Lächeln war wie das von Rosa und war es auch nicht; voller, röter, weiter und so warm wie der August. Mina erwiderte es schüchtern.
»Tausendschön«, sagte Lilja, »ist längst wieder unterwegs in seinen vielen Geschäften, wie alle Kater. Er hat seine Aufgabe erfüllt. Er wird wiederkommen, wenn er es für richtig hält.«
»Seine Aufgabe?« Mina runzelte die Stirn.
Aber Lilja schüttelte den Kopf.
»Komm«, sagte sie nur, »es ist Waschtag. Die Sonne scheint, und der Bach wird alle Erinnerungen an schwarze Nächte für eine Weile fortspülen.«
Als sie ihr Gesicht auf den blanken kleinen Wellen des Baches gespiegelt sah, wäre Mina beinahe wieder in Tränen ausgebrochen. Alles war verschwollen und aufgedunsen, fleckig, schmutzig, unansehnlich. Ihre Nase saß nicht mehr lang und schmal wie ein Federstrich mitten in ihrem Gesicht, sondern leuchtete selbst im verschwommenen Wasserspiegel wie eine rote, ungestalte Knolle. Ihre Haare zottelten ihr wirr um den Kopf, kleine Zweige spießten aus den Strähnen. Sie sah viel mehr wie ein Zigeunermädchen aus als Rosa und Pipa in ihren bunten Kleidern, mit ihren sauberen Wangen.
Rosa gab ihr einen ausgefransten Lappen, der vielleicht irgendwann einmal ein herrschaftliches Taschentuch gewesen war, und wollte ihr helfen, aber Mina genierte sich zu sehr. Hinter einem Busch, der bis ins Wasser hineinwuchs, kniete sie sich hin und wusch sich für sich allein, während die hellen Stimmen in der Nähe sie umplätscherten. Sie rieb und schrubbte so heftig, dass sie nach einer Weile Salz und Wärme schmeckte und wusste, ihre Nase hatte wieder angefangen zu bluten. Rote Tropfen fielen in das klare Wasser, zerfaserten einen Augenblick wie kleine Blüten, bevor sie auseinandertrieben.
Mina starrte sie an und seufzte. Wie hatte Pipa mit ihrem unfreundlichen Blick gesagt? Sie ist doch kein kleines Kind mehr . Nein, das war sie nicht. Schon lange nicht mehr. Aber hier, zerzaust und verwirrt an dem kleinen Bach, hätte Mina viel dafür gegeben, das geschundene Gesicht in Mutters langen Rockfalten verstecken zu können. Den Duft von Veilchen zu riechen, der sie immer umgab, ihre langen, schmalen Hände auf dem heißen Kopf zu fühlen. Wie früher, ganz früher, bevor aus Mina Wilhelmina wurde und
die Schicklichkeit zwischen sie und Mutters Röcke trat. Es wäre eine solche Erleichterung gewesen …
Sie lehnte sich zurück, reckte das Gesicht gegen den blattgefleckten Himmel, damit ihr das Blut nicht weiter aus der Nase lief. Tastete blind nach der Spieluhr, die Zinni ihr wieder in die Tasche geschoben hatte, nach dem Medaillon, das seine lange Kette um die Figurenreste gewunden hatte. Sie würde beides entwirren müssen und das Medaillon an seinen Platz zurücklegen, in der geheimen Schublade, die nun nicht mehr ganz so geheim war. Wie hatte Zinni sie so schnell entdecken können? Er musste zufällig an den Mechanismus gekommen sein. Sie selbst hatte jahrelang mit dem Kästchen gespielt, ohne ihn zu bemerken. Vielleicht lag es daran, dass er ein Taterjunge war. Vielleicht hatte er es im Blut, versteckte Dinge herauszufinden …
Die Spieluhr pingelte leise. Zwei, drei Töne nur, die sich mit dem Geräusch des Wassers vermischten. Der Mechanismus war noch nicht ganz abgelaufen gewesen, als Zinni ihr die Spieluhr zurückgegeben hatte. Jetzt folgten noch ein paar, das Stückchen Melodie am Anfang des Liedes. Und nach einer kleinen Pause noch ein wenig mehr.
Mina stutzte. Kamen die Töne wirklich aus ihrer Manteltasche? Sehr vorsichtig senkte sie den Kopf, hielt sich zur Sicherheit eine Hand unter die Nase und fischte mit der anderen im Mantel. Die Kristallsplitter funkelten wie das Wasser, als sie die Spieluhr herauszog.
Das Kästchen war stumm. Es blieb stumm, als Mina es ans Ohr hielt, und auch dann, als neue Töne auf dem Bach an ihr vorbeitrieben, neue Melodienstückchen, die sich zögernd aneinanderreihten, bis sie den Takt wieder
klopfen
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