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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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tief unten verborgen gelegen hatte, wie ein schwarzer Stein am Grund eines Teichs.
    Sie öffnete den Mund, ohne zu wissen, ob Worte herauskommen würden oder nur ein hilfloses Krächzen. Und welche Worte es sein würden, das wusste sie erst, als sie sie aussprach.
    »Ich glaube«, sagte sie sehr leise und schluckte dann hart. »Ich glaube, ich suche nach meinen Brüdern.«

    Lilja senkte den Kopf, und eine Haarsträhne fiel ihr vors Gesicht.
    »Ah«, sagte sie nur. Es schwang etwas darin, das Mina nicht benennen konnte. Etwas, das scharfe Kanten hatte, wie Glassplitter; etwas, das wehtat, sehr weh. Aber sie fühlte, dass es nicht gegen sie gerichtet war.
    Eine Weile saßen sie so und schwiegen. Die Augen des Drehorgelmanns - des Taterkönigs - wechselten von Erdbraun zu Silbergrün, als ein Weidenblatt auf seine blasse Stirn fiel; der Lufthauch vom Bach wehte es fort, und seine Lider schlossen sich langsam, bis es wieder so aussah, als ob er fest schliefe. Auch die Drehorgel blieb stumm.

    Nur die Worte, die Mina ausgesprochen hatte, sagten sich wieder und wieder unhörbar in ihrem Kopf.
    Meine Brüder. Meine Brüder.
    Sie klangen fremd, sie schmeckten fremd.
    Aber sie waren wirklich.
    Und zwischen den Silben brachten sie ein Gefühl mit sich.
    Mina fand kein Wort, das auf dieses Gefühl gepasst hätte. Aber als das Rascheln des Kleides unter ihren Knien die Bilder von zu Hause wieder auftauchen ließ, da schien es die vertrauten Räume zu verändern. Sie dachte an das Esszimmer, die zarten Porzellanfiguren im Schrank mit der Glastür; die Mädchen mit den Blumenkörben, Jungen mit Hundewelpen. Wie oft hatte sie sich früher gewünscht, sie in die Hand nehmen und mit ihnen spielen zu dürfen. Jetzt sah sie sie hinter der Scheibe stehen, so starr und so still, so viele winzige weiße Hände in zierlichen Posen erhoben, und niemals berührten sie sich.
    Sie dachte an den Wintergarten mit seinen hohen Sprossenfenstern, die sanften Farben der Seidenblumen, die auf Etagèren standen. Jeden Tag staubte Frieda jedes einzelne Blütenblatt mit einem winzigen Pinsel ab, damit sie nicht vergrauten. Mina hatte immer gefunden, dass sie den Garten draußen spiegelten, schöner, vollkommener, als der Garten jemals sein konnte. Jetzt, mit diesem Gefühl in ihr, kam der Raum ihr leer vor, kahl, obwohl es Dutzende Blumen sein mussten.
    Sie dachte an ihr eigenes kleines Zimmer und an das Puppenhaus auf der Kommode, mit dem sie viele Regennachmittage verbracht hatte. Es war das Gutshaus, in allen Einzelheiten bis ins Erdgeschoss; nur die Küche und die
Gesinderäume im Souterrain fehlten. Aber es gab den Rauchsalon und Mutters Damenzimmer, den Flur, das Arbeitszimmer des Vaters mit den ledergebundenen Büchern; eine kleine Figur, die seinen Anzug trug und seinen Bart, saß in einem Sessel und schien zu lesen. Nebenan das Musikzimmer, wo der Flügel stand, dessen Tasten verkehrt herum bemalt waren: die weißen schwarz und die schwarzen weiß. Dort saß die Mutterfigur auf einem geschwungenen Hocker, ganz so, als ob sie spielte. Im ersten Stock lag eine kleine Mina in ihrem kleinen Bett, bis unters Kinn zugedeckt mit einer winzigen Bettdecke, die aus demselben Stoff gemacht war wie ihre eigene, große. Und auf einem Stühlchen daneben saß eine Figur mit hohem weißen Kragen und einer Brille, nicht größer als der helle Halbmond in einem Fingernagel. Die Brille funkelte. Mina sah das Puppenhaus in ihrem Kopf, so deutlich, als könnte sie es berühren.
    Aber jetzt fühlte es sich kalt an.
    Mina öffnete den Mund.
    »Schsch«, machte Lilja, und Mina schrak zusammen. »Nicht jetzt, nicht jetzt, wenn dein Herz und dein Kopf so weit offen sind wie die Felder. Sag nichts. Denk nichts. Lass uns zum Lager gehen, Mina.«
    Liljas Augen blickten ernst. Sie hielt ihr die Hand hin, und nach einem kurzen Zögern nahm Mina sie. Die Finger waren nicht weich und samtig wie die dunklen Haare oder das grüne Kleid. Sie fühlten sich hart an, kräftig und schwielig. Ein wenig wie Mamsells Hände, fand Mina. Aber sie griffen freundlicher zu.
    Sie standen zusammen auf. Mina sah auf den schlafenden Taterkönig und dann zu Lilja.

    »Hat er einen Namen?«
    »Für jeden Tag des Jahres einen.« Lilja lächelte. »Und für jede Nacht dazu. Unter einem kennen ihn die Bäume, die ihre Gesichter zur Sonne wenden. Unter einem anderen die Schwalben zwischen den Wolken. Die Rosen sprachen als Erste von den Blumen zu ihm und gaben ihm einen langen, wunderschönen Namen.

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