Der siebte Turm 01 - Sturz in die Dunkelheit
behielt den Schatten im Auge und griff so langsam wie möglich nach dem Sonnenstein in seiner Tasche. Sein Herz raste. Wenn der Geistschatten springen würde, würde er ihn niederstrahlen.
Oder es zumindest versuchen.
Doch der Geistschatten wandte sich ab. Nun kam ein Erwählter in Sicht. Es war eine glitzernde Gestalt, beleuchtet von den vielen Sonnensteinen an seinen Ringen, an seiner Kette und an seinem Stab. Der Stab gehörte zu einem Hilfs-Lumenor und schien in einem orangefarbenen Licht, was darauf hinwies, dass der Mann dem Orange-Orden angehörte – Tals eigenem Orden.
Einen Augenblick glaubte Tal, dass sich jetzt alles klären würde. Der Hilfs-Lumenor war gekommen, um ihn freizulassen. Die Wächterinnen und alle anderen, die sich gegen ihn verschworen hatten, standen bereits vor dem Hohen Gericht und mussten sich für ihre Verbrechen rechtfertigen.
Dann erkannte Tal, dass der Erwählte dort oben nicht Neril war, der Hilfs-Lumenor, der das Amt seit vielen, vielen Jahren innehatte, und den er kannte. Es war jemand anderes. Er war größer und breiter und so hell beleuchtet, dass Tal das Gesicht nicht erkennen konnte.
Dann sprach der Hilfs-Lumenor und Tals Hoffnungen lösten sich in Luft auf. Er kannte diese Stimme.
Es war Schattenmeister Sushin. Aus irgendeinem Grund war er zum Hilfs-Lumenor des Orange-Ordens ernannt worden. Und zum Hellblender, wie an der neuen, mächtigeren Kette mit Sonnensteinen an seinem Hals zu erkennen war.
Doch das war unmöglich, zumindest hätte es unmöglich sein müssen, nach allem, was Tal gelernt hatte. Hellstern war der höchste Rang im Orange-Orden. Um noch höher zu steigen, musste man mindestens in den Grünen Orden kommen. Wie auch immer er es anstellte: Sushin schien ein Fachmann in Sachen gesellschaftlichem Aufstieg zu sein. Er war ja auch Schattenmeister, ein Titel, der von der Imperatorin vergeben wurde und normalerweise mit einem bestimmten Amt oder einer Aufgabe einher ging. Sushin hatte niemals gesagt, welche Aufgabe er hatte.
„Junger Tal“, sagte Sushin im Tonfall eines Lektors, der einen seiner Schüler an einem Ort fand, an dem der nicht sein sollte.
„Was ist mit Neril geschehen?“, fragte Tal. Er war unfähig, seinen Zorn zu verbergen. „Dem richtigen Hilfs-Lumenor?“
„Nein, nein“, sagte Sushin. „So können wir doch nicht anfangen. Du hast ganz sicher all deine Manieren vergessen, wo auch immer du gesteckt hast.“
„Ich habe sie nicht vergessen“, gab Tal zurück, machte aber keine Anstalten aufzustehen und sich zu verbeugen. „Und selbst wenn ich einen Sonnenstein hätte, würde ich dir kein Licht anbieten.“
„Wirklich nicht?“, fragte Sushin trocken. „Du bist aber ein böser Junge.“
Er hielt eine Kette hoch und das Licht seiner Sonnensteine wurde schwächer. Tals Augen brauchten dennoch einen Moment, um sich auf das einzustellen, was Sushin jetzt in den Händen hielt. Es war seine eigene Kette mit den Resten seines alten Sonnensteins.
„Was ist mit deinem Sonnenstein passiert?“, fragte Sushin.
„Das geht dich nichts an“, sagte Tal.
„Es geht mich sehr wohl etwas an“, erklärte Sushin. „Du weißt doch, dass du ohne Sonnenstein kein Erwählter bist, Tal.“
Kein Erwählter. Diese Worte trafen Tal wie das Horn eines Merwin. Jetzt saß er in der Falle. Wenn er zugab, dass er einen neuen Sonnenstein hatte, würde man ihn ihm wahrscheinlich abnehmen. Verschwieg er es, würde Sushin ihn wie einen Untervölkler behandeln.
„Als Hilfs-Lumenor des Orange-Ordens“, fuhr der Schattenmeister fort, „ist es meine Aufgabe festzustellen, ob dieser Verlust ein Unfall war – dann sollte der Stein ersetzt werden – oder ob es mutwillige Zerstörung war. In letzterem Fall wäre deine Degradierung zum Untervolk unabwendbar. Genauso wie… andere Bestrafungen.“
Tal gab keine Antwort. Er wusste, dass Sushin nur mit ihm spielte. Der Schattenmeister war sein Feind.
„Ich kann deinen Sonnenstein ersetzen“, sagte Sushin. Er griff in seine Tasche und holte eine neue, goldene Kette hervor. Ein großer Sonnenstein prangte daran. „Ein Erhabener Sonnenstein, Tal. Stark genug, um dich und deine Familie am Tag des Aufstiegs nach Aenir zu bringen. Der Tag, an dem du ein vollwertiger Erwählter wirst … oder auch nicht. So wie ich es sehe, ist es im Moment auch für deine Mutter besonders wichtig, nach Aenir zu gelangen. Das erzählen mir zumindest meine beiden Freundinnen Lallek und Korrek. Sie machen sich große Sorgen um
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