Der siebte Turm 04 - Jenseits der Grenze
schlafen, denn sie atmete normal, während die jüngere Crone ihre Wunden verband.
„Das können wir nicht versprechen“, sagte sie. „Es ist das Recht eines jeden Eiscarls, sich dem Eis zu überlassen. Abgesehen davon muss auch über Milla gerichtet werden. Vielleicht wird unser Urteil lauten, dass sie sich dem Eis überlassen muss.“
Odris runzelte die Stirn und schoss hoch in den Himmel. Doch sie wusste, dass sie sich nicht weit von Milla entfernen konnte. Selbst wenn sie der Bindung irgendwie entkommen konnte, so gab es doch kein Licht in dieser Welt. Sie würde sich einfach in Nichts auflösen.
Sie schien keine Wahl zu haben.
„Was ist das für ein Gefängnis?“, fragte sie. „Und die Verhandlung? Darf ich meinen Standpunkt darlegen?“
„Ja, du darfst sprechen“, sagte die Mutter-Crone. „Und das hier ist dein Gefängnis.“
Sie holte eine Flasche aus goldenem Metall aus ihrer Tasche und schraubte den Deckel ab.
„Da passe ich nicht hinein“, sagte Odris. „Sie ist zu klein.“
„Ich glaube, du wirst überrascht sein“, erwiderte die Mutter-Crone. „Willst du es versuchen?“
Odris spürte eine seltsame Macht in der Stimme der alten Frau. Eine Macht, die immer stärker wurde und beim nächsten Mal wie die Blitze eines Sturmhirten aus ihrem Mund hervorschießen würden.
„Oh, in Ordnung!“, sagte Odris.
Die Mutter-Crone hielt die Flasche hin. Odris stellte sich auf zwei Beine und beugte sich mit demütig geneigtem Kopf nach vorn.
„Und Ihr seid sicher, dass das groß genug ist?“ Die Mutter-Crone nickte. Odris steckte erst einen Finger in den Flaschenhals, dann einen zweiten. Irgendwie schaffte sie es, ihre ganze Hand und dann den ganzen Arm hineinzubekommen. Schließlich wurde ihr restlicher Körper hineingesaugt wie von einem Wirbelsturm.
Seltsamerweise fühlte Odris sich nicht beengt. Es kam sogar etwas Licht von draußen herein, sodass sie sich auch gut fühlte. Doch als der Deckel zugeschraubt wurde, überkam sie ein eigenartiges Gefühl. In der Flasche gab es Hinweise auf andere Schatten. Schatten, die vor langer Zeit eingesperrt gewesen und nie mehr freigelassen worden waren. Schatten, die sich einfach in nichts aufgelöst hatten…
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
Tal konzentrierte sich auf seinen Sonnenstein und versuchte, orangefarbenes Licht zu bilden. Adras’ Schreie und Fluche und das Zischen des Hüters bekam er noch entfernt mit, doch er blendete sie aus. Das Licht war das Einzige, was jetzt eine Rolle spielte.
Langsam baute sich das orangefarbene Licht vor seinem Ring auf. Es kam als heller, dünner Strang, der mit steigender Höhe dicker wurde, und verfestigte sich zu einem Seil so dick wie Tals Arm. Er zog mehr und mehr davon aus seinem Ring, bis es zwanzig oder dreißig Spannen hoch über ihm aufragte.
Auf Tals Stirn trat Schweiß, als er sich auf das Ende des Seils konzentrierte. Er lenkte es in eine Schlaufenform und versuchte, einen Lassoknoten zu machen. Dann senkte er die entstandene Schlinge über den Kopf des kämpfenden Geistschattens.
Jetzt hing die Schlinge da, gehalten von Tals Konzentration und seinem Sonnenstein. Tal wartete auf die richtige Gelegenheit. Ein paar Mal senkte sich die Schlinge, doch sie zog sich nicht zu. Adras war immer im Weg.
„Ich erwische ihn nicht“, flüsterte Tal, nachdem der vierte Versuch mitten in der Luft schief gegangen war, weil Adras wieder direkt unter die Schlinge geriet.
„Adras!“, brüllte Crow. „Schieb ihn weg!“
Adras grunzte. Einen Moment machte er keine Bewegung. Dann ließ er plötzlich los und anstatt den Hüter erneut zu greifen, stieß er ihn weg. Im gleichen Moment ließ Tal die Schlinge fallen. Sie rutschte exakt über den Kopf des Hüters. Tal zog sofort zu und das Seil schnitt ins Schattenfleisch der Bestie. Als Adras davonsprang, wickelte er den Rest des Lichtseils um den schlangenhaften Körper und fesselte den Geistschatten an die Bronzestange.
„Schnell! Ich kann ihn nicht lange halten!“
Das war der Moment, auf den Crow gewartet hatte. Er sprang auf die nächst höhere Stange und schwang sich vor dem zappelnden Geistschatten hoch. Er streifte den Beutel in seiner Hand – der aus einem goldenen Gewebe bestand – über den Kopf des sich windenden Hüters.
„Lass ihn los!“, rief Crow, der noch immer den Beutel festhielt.
„Was?“, brüllte Tal. „Bist du wahnsinnig?“
Der Kopf des Hüters steckte jetzt in dem seltsamen Goldbeutel, doch Tal wusste nicht, was das
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