Der siebte Turm 04 - Jenseits der Grenze
vorn. Sie machte ein Dutzend langsame, irgendwie bedrohlich anmutende Schritte.
Schließlich stand sie genau vor Milla. Sie schwieg.
„Aus Gründen der Fairness“, sagte die Mutter-Crone nach einer oder zwei Minuten, „werden wir mit der Stimme sprechen und nicht mit den Gedanken.“
Die Crone sah irritiert aus. Doch dann sprach sie.
„Ich bin Jerrel, die Schwester von Halla, Mutter der Schildmutter Arla. Ich frage mich: Weshalb überhaupt noch etwas sagen? Die Verbrechen sind offensichtlich. Sie ist nicht gesund genug, um auf das Eis zu gehen. Lasst sie zerbrechen und verfüttert sie den Wreska ihres Clans. Und möge unter dem Namen… Milla… niemals mehr ein Eiscarl geboren werden.“
Milla schloss die Augen. Dies war beinahe die schlimmste Bestrafung, eine der Möglichkeiten, die sie nicht in Betracht gezogen hatte. Wenn sie sie doch nur sauber und schnell auf das Eis gehen ließen!
Eine andere Crone trat zwölf Schritte vor und stellte sich auf gleicher Höhe, aber mit etwas Abstand, neben Jerrel auf. Sie war älter, ihre Augen waren noch immer leicht silbrig, aber bereits mit einer Andeutung von Milchigkeit.
„Ich bin Kallim, Clirs Tochter, Schwester von Rucia“, sagte sie. „Ich habe Milla gehört, bin in ihren Träumen gewandelt, ebenso wie ich im sterbenden Traum von Arla, der Tochter der Tochter meiner Schwester wandelte. Was den Totschlag betrifft, so sage ich, dass es sich um einen gerechten Kampf gehandelt hat und keinen Mord und dass es daher keine Bestrafung geben kann. Was den Schatten betrifft, so kam er zwar mit Milla, doch sie hatte keine Wahl bezüglich seines Mitkommens. Wir müssen auch in Betracht ziehen, dass sie uns einen großen Gefallen mit der Überbringung der Nachrichten über das Übel der Erwählten und die Gefahr, die dem Schleier droht, getan hat. Diese Nachrichten hätten ohne den Schatten nicht überbracht werden können. Also sage ich, dass auch dieser Punkt als schuldlose Handlung zu betrachten ist.“
Milla hörte fassungslos zu. Diese Crone sagte, dass es gar keine Bestrafung geben sollte!
Es kamen keine Cronen mehr nach vorn, um zu sprechen. Doch nach ein paar Minuten versammelten sich mehr und mehr von ihnen hinter Jerrel oder Kallim und zeigten damit ihre Unterstützung der jeweiligen Crone an.
„Sie reden“, flüsterte Odris, die sich neben Milla niedergelassen hatte. „In ihren Köpfen. Ich kann es beinahe hören. Wie das Flüstern des Windes.“
Milla sah zu. Sie hatte all ihre Hoffnung aufgegeben, doch jetzt flammte wieder ein kleiner Funke der Zuversicht in ihr auf. Vielleicht gab es doch eine Chance, dass man ihr vergab, dass sie doch noch eine Schildjungfrau werden konnte…
Es war jedoch so, dass sich eine furchtbar große Menge an Cronen hinter Jerrel aufgereiht hatte, der Crone, die ihre Verfütterung an die Wreska gefordert hatte. Mehr als hinter Kallim.
Nach ein paar Minuten gab es keine weiteren Bewegungen mehr unter den Cronen. Milla war sich nicht ganz sicher, doch es sah so aus, als stünde mehr als die Hälfte von ihnen hinter Jerrel. Wenn hier dieselben Regeln galten wie bei einer normalen Schiffsabstimmung, dann bedeutete es, dass Jerrel gewonnen hatte.
Milla würde ehrlos sterben und ihr Name würde für immer gebannt sein.
Sie schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie hörte, wie die Cronen sich wieder bewegten.
Eine dritte Crone, deren Augen vollkommen milchig waren, schritt zum anderen Ende des Raumes. Als sie dort ankam, sprach sie.
„Ich bin die Mutter-Crone der östlichen Clans“, sagte sie mit einer tiefen, kraftvollen Stimme. Millas Nackenhaare stellten sich dabei auf. „Ich sage, dass es noch eine dritte Möglichkeit gibt, das Schicksal von Milla von den Far-Raidern und des Schattens Odris zu besiegeln.“
Ein Raunen lief durch die Reihen der Cronen. Es war nur ein ganz leichtes, aber genug für Milla, um es wahrzunehmen.
Eine dritte Möglichkeit?
„Ich sage, dass sie für ihre Untaten aus ihrem Clan ausgestoßen werden soll“, verkündete die Mutter-Crone. „Und ihr Name soll ihr genommen werden.“
Milla unterdrückte ein Schluchzen. Das war die übelste Bestrafung. Selbst wenn sie den Wreska zum Fraß vorgeworfen würde, so wäre sie noch immer ein Mitglied ihres Clans gewesen und man würde sich an ihren Namen erinnern, wenn er auch nicht mehr benutzt werden durfte.
Ausgestoßen zu werden, war wie eine Auslöschung, so als wäre man niemals ein Eiscarl gewesen.
„Für ihre Taten und für
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