Der siebte Turm 04 - Jenseits der Grenze
Moment auf, in dem Tals Hand das Seil zu fassen bekam.
Die Glocke läutete einmal.
Beide Jungen erstarrten in der Bewegung und warteten darauf, dass die anderen Glocken ebenfalls zu läuten beginnen würden oder sonst etwas geschah. Doch abgesehen von dem Seil, das in Tals Hand zuckte, blieb der Baum still.
„Einen Augenblick, ich bin gleich da“, sagte Crow. Er hatte die Arme ausgestreckt, um seine ohnehin schon unsichere Balance zu halten. Einen Fuß hatte er hinter sich gestreckt. „Wenn ich es so weit schaffe.“
Tal sah sich die Kacheln an, über die Crow noch springen musste. In der Nähe des Pyramidenstumpfs gab es überhaupt keine weißen Kacheln mehr. Crow würde sich einmal mehr auf einer einzelnen roten Kachel ausbalancieren müssen. Und was noch schlimmer war: Tal hatte keine Ahnung, welche Glocke zu welcher Kachel gehörte – die Glocken lagen über diesem Punkt sehr eng zusammen.
Außerdem musste er sich in diesen Bereich hochschwingen, es lag aber ein Ast dazwischen.
„Ich glaube nicht, dass ich die richtige Glocke erwischen werde“, sagte Tal besorgt.
Crow versuchte nach oben zu sehen, musste aber sofort innehalten, als er beinahe die Balance verlor.
„Du musst aber“, sagte er. „Ich kann hier nicht so bleiben. Bei drei?“
„Nein!“, rief Tal unvermittelt. „Was ist, wenn du auf die Pyramide springst und die Hände erwischst? Würdest du dann noch den Boden berühren?“
Crow sah zum Pyramidenstumpf hinüber. Die Hände lagen ungefähr auf derselben Höhe wie sein Hals. Es war ein weiter Sprung, vor allem von einem Bein aus. Doch wenn er die Hände zu fassen bekommen würde, könnte er sich mit angezogenen Beinen daran festhalten, zumindest so lange, bis Tal die richtige Glocke gefunden und sie stillgelegt hatte.
„Das schaffe ich“, sagte er zuversichtlich. „Bleib, wo du bist.“
Er ging auf einem Bein in die Hocke, wobei seine Zehen schmerzten. Langsam lehnte er sich nach vorn. Seine Arme zitterten bei dem Versuch, die Balance zu halten. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Pyramidenstumpf und den silbernen Händen. Er würde weit genug springen und sie zu fassen bekommen. Er würde es schaffen. Er musste es schaffen.
Er wollte gerade springen, als ihm ein furchtbarer Gedanke kam.
Was wäre, wenn die Hände nicht fest an dem Pyramidenstumpf angebracht waren?
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
Irgendwann verstummte Millas heisere und erschöpfte Stimme. Sie befeuchtete ihre Lippen und wartete eine Ewigkeit auf das, was da als Nächstes kommen würde.
Jetzt werden wir den sprechenden Schatten anhören“, sagte die Mutter-Crone. Sie stampfte mit dem Fuß neben der Flasche auf und ein klingendes Geräusch ertönte, so als ob Metall auf Metall geschlagen hätte. Der Deckel war bereits abgeschraubt.
Odris floss in einer unbeschwerten Bewegung heraus, baute sich neben Milla zu ihrer vollen Größe auf und warf einen Schatten auf die Mutter-Crone. Doch die Eiscarl-Frau zuckte weder zusammen, noch tat sie einen Schritt zurück.
„Odris, Schatten des Sturmes“, sagte sie, „du hast gehört, was Milla von den Far-Raidern gesagt hat. Willst du irgendeinem Teil ihrer Geschichte widersprechen?“
„Nein“, sagte Odris. „Ich wollte nur sagen, dass ich Milla gern ihren Schatten zurückgeben würde, wenn nur jemand wüsste, wie es geht.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hastig hinzu: „Aber nur, wenn es mich nicht umbringen würde oder etwas in dieser Richtung. Ich meine, ich will doch nur mit Adras zurück nach Aenir.“
„Du wurdest nach dem Vergessen geboren, oder nicht?“, fragte die Mutter-Crone.
Odris nickte.
„Dann darf man dich nicht für den Krieg gegen unser Volk richten“, betonte die Mutter-Crone.
„Gut“, sagte Odris. „Können wir dann gehen?“
„Nein.“ Die Mutter-Crone ging zurück hinter Millas Stuhl und sprach über Millas Kopf hinweg zu den versammelten Cronen.
„Milla von den Far-Raidern wird gemäß ihrer eigenen Worte beschuldigt, einen freien Schatten auf das Eis gebracht und die Schildmutter Arla erschlagen zu haben, Tochter von Halla, Tochter von Luen, Tochter von Rucia, Tochter von Nuthe in der Linie von Gretir seitdem das Schiff zur Ruine wurde. Ihr habt Milla gehört, seid in ihren Träumen gewandelt und habt durch ihre Augen gesehen. Welche Bestrafung soll ihr zuteil werden und was soll mit dem Schatten geschehen, der an ihrer Seite steht?“
Niemand rührte sich. Dann kam eine Crone mit silberfarbenen Augen nach
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