Der Siegelring - Roman
Stilett bei sich, natürlich. Sie hatte ihr ja ständig eingeprägt, eine Waffe mitzunehmen, wenn sie alleine fortging. Vielleicht hatte es eine verzweifelte Szene gegeben, die Weigerung der Frau, die Abtreibung vorzunehmen, die Wut über Martius selbstsüchtiges Verhalten … Rosina konnte jähzornig sein. Annik selbst hatte einige Male miterlebt, wie wütend die ansonsten so scheue Frau werden konnte, wenn sie persönlich verletzt wurde. Sie hätte die unschuldige Katze erstochen, wäre sie nicht dazwischen gefahren. Auch die Art und Weise, wie sie die Glaswaren an die Wand geworfen hatte, zeigte ihre zerstörerische Ader. Ja, es war mehr als nur denkbar, dass sie es war, die Martius getötet hatte. Nicht kaltblütig, sondern in rasender Wut. Was auch erklärte, dass das Messer dort bei der Leiche geblieben war. Es wieder an sich zu nehmen, daran hatte sie gewiss nicht gedacht. Auch nicht an die Folgen, wenn es gefunden wurde.
Aber noch verdächtigte Falco den Barden oder einen der Gallier. Er würde einen Unschuldigen des Mordes bezichtigen,
und selbst wenn es nie bewiesen werden würde, würde er ihn opfern, damit nicht der Senator das Niederbrennen des Dorfes befahl.
Was sollte sie tun?
Diese Frage bewegte Annik die ganze Nacht.
Natürlich sagte sie sich, irgendwann würde jemand wahrscheinlich Rosinas Stilett erkennen, spätestens Valerius Corvus. Wenn Falco es ihm zeigte. Falls Falco es ihm zeigte. Sollte sie Rosina des Mordes bezichtigen? Valerius gegenüber? Den Barden warnen?
Keine der unzähligen Fragen hatte sie gelöst, als der Morgen graute. Mit bleiernen Gliedern holte sie sich einen Eimer eiskaltes Wasser vom Brunnen und wusch sich damit. Unfähig, sich einer Aufgabe zu widmen, nahm sie nach einigen missglückten Versuchen an der Töpferscheibe ihren Umhang und verließ das Gut, um zum Matronenstein zu wandern. Vielleicht würden die Göttinnen ihr einen Weg zeigen. Sie bat für Martius, seine wandernde Seele in der Anderwelt, sie bat für ihre Freundin Rosina, deren Herz er in Verwirrung gebracht und sie zu Taten verleitet hatte, die sie auf ewig belasten würden. Sie betete für das ungeborene Kind der beiden. Und sie betete für sich, auf dass sie eine Lösung für die Bedrängnis fand, mit der sich ihr Gewissen quälte. Ein wenig half diese stille Zwiesprache, und mit dem seltsamen Gefühl, dass es in ihrer Macht stand, denjenigen zu helfen, die sie liebte und achtete, kehrte sie in der Mittagsstunde zurück zum Gut.
Valerius Corvus war aus der Colonia zurückgekehrt, sobald er die Nachricht von Falco erhalten hatte. Annik war durch die nördliche Pforte gekommen und ging gerade an der Villa vorbei, wo sie sah, dass sein Rappe noch aufgezäumt vor dem Haus stand. Charal hielt ihn am Zügel.
Er musste gerade eingetroffen sein, dachte sie erleichtert. Doch in diesem Moment rannte Gratia auf sie zu, vollkommen außer Atem.
»Sie brennen das Dorf nieder!«
»Wer?«
»Die Legionäre! Der Senator hat es Falco befohlen!«
»Nein!«, schrie Annik auf. Sie rannte auf den Rappen zu, sprang auf und riss Charal die Zügel aus der Hand.
»Annik, nicht! Wo willst du hin!«
»Zu Falco! Ins Dorf!«
»Bleib!«
Sie schüttelte den Kopf, der Rappe stieg und hätte Charal beinahe mit den Hufen erschlagen. Er sprang aus dem Weg, und sie galoppierte davon.
Gratia sah ihr in Panik hinterher und stürzte dann ins Haus, um ihren Vater zu holen.
Annik trieb den mächtigen Rappen an, er raste mit donnernden Hufen den Karrenweg durch die Felder zum Dorf hinauf. Ihren Umhang hatte sie abgeworfen, ihre Haare hatten sich gelöst und flatterten wie ein Banner hinter ihr her. Schon aus der Ferne sah sie die schwarzen Rauchsäulen aufsteigen. Sie verließ den Pfad, sprengte über die Weiden, sprang über Gräben und Zäune. Die ersten Hütten standen in hellen Flammen, schreiend liefen ihr Frauen und Kinder entgegen. Vor ihr fiel eine von ihnen, von einem Pfeil getroffen, in eine lehmige Pfütze. Ein blutendes Kind sank stumm neben ihr nieder. Einige Männer wehrten sich mit Schaufeln, Äxten und Forken gegen die gut bewaffneten Legionäre. Gebrüll, Schmerzensschreie, das Prasseln des Feuers, beißender Rauch beherrschten die Szene. Krachend barsten die Dachbalken der brennenden Häuser, begruben die unter sich, die sich nicht mehr retten konnten. Lodernder Zorn packte
Annik, und als sie Falco auf seinem Pferd etwas abseits von dem Geschehen sah, von wo aus er den Einsatz seiner Leute leitete, preschte
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